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Eltern am Limit

Herausforderungen und Stress erfolgreich meistern

von Dorothee Döhring (Autor:in)
180 Seiten

In Kürze verfügbar

Zusammenfassung

Beruflicher Erfolg, finanzielle Unabhängigkeit, laufend pädagogisch wertvolle Aktivitäten mit den Kindern und natürlich ein perfekter Haushalt – die Erwartungen an Eltern sind hoch. Doch die Realität sieht meist anders aus. Der Spießrutenlauf zwischen Kindergarten oder Schule, Arbeit, digitalen Meetings, Erledigungen, Kochen, Sportkursen, Arztterminen und Wäsche-Bergen zehrt und immer mehr Eltern suchen erschöpft und ausgebrannt Hilfe.
Dieser Ratgeber zeigt, wie Familienglück trotz hoher Anforderungen und Stress möglich ist. Voraussetzung ist allerdings, sich zuerst einmal mit der Realität auseinandersetzen, bevor man Idealen nacheifert. Keine Familie kann Stress völlig vermeiden, damit er nicht zu einem Dauerproblem wird, sollten Eltern akute Belastungen nicht ignorieren, sondern rechtzeitig Unterstützung in Anspruch nehmen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einführung

Dieser Ratgeber richtet sich an Eltern, die sich durch die Vielfalt der Anforderungen, die an sie gestellt werden, überfordert fühlen. Um diesen vielen Herausforderungen gewachsen zu sein, ist es erforderlich, die Gründe für diese Mehrfachbelastungen zu erkennen.

In Teil 1 erfolgt eine Analyse der zahlreichen Ursachen für dieses Problem, angefangen von der Illusion der Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf über die Schwierigkeiten Alleinerziehender bis hin zu den Herausforderungen, die von hochbegabten, schulisch schwachen oder verhaltensauffälligen Kindern ausgehen.

In Teil 2 dieses Ratgebers wird gezeigt, wie Familienglück trotz hoher Anforderungen und Stress möglich sein kann. Letztlich geht es darum, sich geistig-seelisch mit sich und der Realität auseinanderzusetzen.

Elternsein ist eine anspruchsvolle Lebensaufgabe, die oft an die Substanz geht, zu Überforderung führt und Stress auslösen kann. Damit sie Eltern nicht an ihr Limit bringt, sollten diese akute Belastungen nicht ignorieren, sondern rechtzeitig Unterstützung in Anspruch nehmen, wenn sie nicht mehr weiterwissen. Das Eingeständnis, am Limit zu sein und Unterstützung zu benötigen, ist keine Schande und bedeutet nicht, versagt zu haben, vielmehr zeugt es von Selbstfürsorge und Verantwortungsbewusstsein.

Dieser Ratgeber beinhaltet darüber hinaus hilfreiche Adressen von Eltern- und Familienberatungsstellen, wo Betroffene Unterstützung finden können. Für eine niedrigschwellige anonyme Beratung steht in verschiedenen Regionen sogar rund um die Uhr ein Elternnotruf zur Verfügung.

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Teil 1

Konflikte und ihre Folgen

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1 Bestandsaufnahme

Die überforderte Generation – Dauerspagat zwischen Familie und Beruf

Die meisten 30- bis 40-Jährigen sind heutzutage im Stress, insbesondere wenn sie Kinder haben. Sie erleben einen Zeitdruck, den weder ihre Eltern noch ihre Großeltern kannten. „Sie müssen in fünf Jahren das leisten, was die Elterngeneration in zehn Jahren geleistet hat“, sagt Hans Bertram, emeritierter Soziologieprofessor der Berliner Humboldt-Universität. Gemeinsam mit Carolin Deuflhard hat er alle Daten ausgewertet, die der Mikrozensus, also die größte statistische Erhebung, in Deutschland über ökonomischen Strukturwandel und familiäre Lebensformen gesammelt hat. Die beiden kamen zu dem Ergebnis: Von jungen Erwachsenen wird in Deutschland zu viel auf einmal verlangt.1

„Die überforderte Generation“, das sind Bertram und Deuflhard zufolge etwa die Jahrgänge 1970 bis 1980. Sie sind in einer Zeit des Wohlstands groß geworden und erlebten ein enormes Angebot im Rahmen von Schule, Ausbildung und Studium. Die beiden Forscher kommen zu dem Schluss, dass sich Höchstleistungen im Beruf bei unsicheren Berufsperspektiven nur schwer mit der Fürsorge für Kinder verbinden lassen.

Tatsächlich haben viele Eltern in Deutschland mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie Schwierigkeiten. Mehr als zwei Drittel (68 Prozent) von ihnen gaben in einer repräsentativen Befragung des Meinungsforschungsinstituts Kantar Emnid an, damit Probleme zu haben. Nur 29 Prozent gaben an, beides gut hinzubekommen. Vor vier Jahren waren es noch 43 Prozent.2

Doch warum fällt es Eltern so schwer, die richtige Balance zu finden? Einer der Gründe ist laut der Studie, dass Frauen nach der Babypause immer früher – oft aus finanziellen Zwängen heraus – wieder in den Beruf zurückkehren. Sie wollen jedoch auch für ihr Kind da sein. Viele Väter hätten gerne mehr Zeit für die Familie, können es sich aber nicht leisten, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. 86 Prozent der Befragten sind der Ansicht, dass sie sich dem Arbeitsmarkt anpassen müssten statt umgekehrt – trotz Homeoffice, Teilzeit und anderen flexiblen Arbeitsmodellen.3

Die heutige Elterngeneration müsse auch mit anderen Erwartungen fertig werden. Während Frauen früher als schlechte Mütter galten, wenn sie nach einer Geburt zeitnah wieder arbeiten gingen, ist heute oft das Gegenteil der Fall: 84 Prozent spüren die gesellschaftliche Erwartung, das Kind möglichst früh in eine Betreuungseinrichtung zu geben.4

Einfach zu lösen ist das Problem der Unvereinbarkeit von äußeren Erwartungshaltungen, eigenen Wünschen und realen Gegebenheiten nicht. Es macht einen deutlichen Unterschied, ob man im Haus der Eltern wohnt und Unterstützung aus der Familie erhält oder ob man in der Großstadt lebt, die Hälfte seines Einkommens für die Wohnung ausgeben und Unterstützung gegen Bezahlung organisieren muss. Vor allem hilft wohl ein bisschen mehr Gelassenheit bei der eigenen Beurteilung. Eltern, denen es gelingt, sich vom Druck zu befreien, alles perfekt machen zu müssen, befreien sich damit auch von Stress. Das Motto sollte sein: „Gut genügt.“ Ein bisschen weniger Selbstoptimierungszwang in Bezug auf Kindererziehung, Karriere und Wohnung nimmt schon etwas von der Last.

Unter dem Spagat zwischen Job und Familie leiden nicht nur Mütter, sondern auch Väter, die sich eine kooperative Elternschaft wünschen. Wohl jeder Vater will heute ein guter Vater sein, doch Anspruch und Realität klaffen oft weit auseinander. Väter fühlen sich oft zwischen Familie und Arbeitsplatz hin- und hergerissen. Sie fühlen sich dadurch sogar vom Alltag überfordert, wie eine neue wissenschaftliche Studie zeigt:

Noch vor 50 Jahren hatte ein Vater, der in der Öffentlichkeit einen Kinderwagen schob, Seltenheitswert. Der Vater gehörte in die Werkstatt oder ins Büro, die Mutter in die Küche und zu den Kindern. Seitdem hat sich viel verändert.

Während sich Frauen mehr emanzipierten und gut ausgebildet ihren Platz auf dem Arbeitsmarkt eroberten, forderten sie von den Vätern ihrer Kinder mehr Engagement in der Kindererziehung. Eine aktuelle Umfrage des Forsa-Instituts im Auftrag der Zeitschrift „Eltern“, in deren Rahmen 1000 Väter und Stiefväter zwischen 20 und 55 Jahren befragt wurden, bringt nun Licht in die neue Rolle der Väter: Was hat sich verändert und was nicht?

Noch leben viele Männer nach dem geprägten Rollenmodell. Als Haupternährer fühlen sie sich dafür verantwortlich, genug Geld für die Familie zu verdienen. Fast 90 Prozent der Väter arbeiten Vollzeit, ergab die Studie, nur ein Drittel möchte die Arbeitszeit verkürzen.

Doch gleichzeitig wollen moderne Väter auch am Familienleben beteiligt sein: „Ein guter Vater sollte so viel Zeit wie möglich mit seinen Kindern verbringen“ – für diese Antwort entschieden sich 81 Prozent der befragten Männer.5

Vollzeit arbeiten und viel Zeit mit den Kindern verbringen – das ist ein Spagat, der kaum zu schaffen ist. Wunsch und Wirklichkeit im Leben der meisten Väter klaffen also weit auseinander, und das hinterlässt meist ein schlechtes Gewissen.

Unterbrochene Nachtruhe, morgens das Baby füttern, dann schnell aus dem Haus. Abends erschöpft von der Arbeit kommen, dann der ebenfalls gestressten Mutter das Baby aus dem Arm nehmen, Windeln wechseln und mit dem Kinderwagen spazieren fahren. Vater zu sein bedeutet heute, beiden Lebenswelten gerecht werden zu müssen – ein Dilemma, das bei 54 Prozent der Väter das Gefühl auslöst, nicht ausreichend für die Kinder da zu sein. 17 Prozent der Väter fühlen sich sogar völlig überfordert, ergab die Studie. 43 Prozent hätten gerne mehr Zeit für die Familie und auch mehr Freiraum für sich selbst: 39 Prozent der Väter bemängelten, sie hätten zu wenig Zeit für eigene Interessen.6

Die Anforderungen an einen modernen Vater sind schwer zu erfüllen, oft überfordert ihn der Spagat zwischen Job und Familie. Dennoch lohnt es sich, Vater zu sein. Ihr Leben sei durch die Geburt ihres Kindes glücklicher und erfüllter geworden, gaben immerhin 58 Prozent der Väter im Rahmen der Forsa-Studie an. Es sei eine riesige Chance, Vater zu sein und die Verantwortung für ein Kind mitzutragen, meint der dänische Familientherapeut Jesper Juul. Väter erleben eine völlig andere Bereicherung als im Umgang mit ihren Kollegen im Job.

Berufstätige Eltern in Deutschland leiden vermehrt unter chronischer Zeitknappheit. Das ergab eine Umfrage unter 1000 Müttern und Vätern im Auftrag des AOK-Bundesverbandes. Danach beklagt knapp die Hälfte (47 Prozent), im Alltag durch mangelnde Zeit gestresst zu sein. Andere starke Belastungsfaktoren wie Geldknappheit oder psychische Anstrengungen rangieren laut der Studie mit jeweils 28 Prozent weit dahinter. Die Zahlen bestätigen frühere AOK-Familienstudien, die seit 2007 regelmäßig durchgeführt werden.7

Nach Ansicht des Gesundheitswissenschaftlers Klaus Hurrelmann von der Hertie School of Governance steht die heutige junge Generation von Eltern nicht nur vor neuartigen, sondern vermutlich auch vor größeren Anforderungen im Familienalltag als frühere Generationen. Trotz kooperativer (partnerschaftlicher) Elternschaft sei die Belastung der Frauen in Paarfamilien noch um einiges größer als die der Männer. Die Familienpolitik müsse sich daher flexibler auf die wandelnden Lebensläufe und die sich ändernden individuellen Muster der Lebensführung von Eltern einstellen, fordert Hurrelmann, denn der größte Teil von Müttern und Vätern ist heute erwerbstätig. Die Studie kommt auf einen Durchschnittswert von 50 Prozent Erwerbstätigen in Vollzeit und 36 Prozent in Teilzeit. Frauen bevorzugen nach wie vor die Erwerbstätigkeit in Teilzeit.8

Die Illusion der Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Männer und Frauen im Alter zwischen Mitte 20 und Anfang 40 sehen sich vielfältigen gesellschaftlichen und selbst gesteckten Anforderungen gegenüber und sind so mittendrin in der „Rushhour des Lebens“: Etablierung im Job, Karriere, feste Partnerschaft, Familiengründung, fester Wohnsitz, Verantwortung für älter werdende Eltern.

Beim Versuch, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren, entstehen Zeitnot und Überforderung, denn heute fällt die Zeit der Familiengründung mit der beruflichen Profilierung beider Elternteile zusammen. Kinder, Partnerschaft, Familie und Beruf sind daher eher ein logistisches Problem als ein Glücksversprechen! Am Arbeitsplatz muss man so funktionieren, als hätte man keine familiären Aufgaben, und wenn die Großeltern nicht mehr helfen können, sondern selbst hilfsbedürftig werden, bewegt sich die „Generation Sandwich“ hart an der Grenze der eigenen Belastbarkeit.

Soziologen sprechen bei der „Rushhour des Lebens“ vom Wahn der Gleichzeitigkeit, der zu Überforderung führt. Besonders schwierig ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für alleinerziehende Mütter. Wenn sie keine Unterstützung aus ihrer Familie erhalten, sind sie zur Teilzeitbeschäftigung gezwungen und müssen ggf. mit staatlichen Mitteln aufstocken.

Katrin, 38:

images Ich bin Grundschulrektorin und eigentlich sehr gut organisiert, komme aber oft an meine Grenzen: Ich bin alleinerziehend und habe einen Sohn mit ADHS und Förderstatus. Er geht zur Förderschule, wo ich ihn nachmittags um 16 Uhr abhole. Zu Hause habe ich mit ihm zu kämpfen, wenn es um seine Hausaufgaben oder spezielle Übungen geht. Für mich bleibt keine Zeit zum Regenerieren. Erst ein Zusammenbruch zeigte mir, dass ich der Mehrfachbelastung nicht mehr gewachsen war und etwas ändern musste. Ich reduzierte meine Stundenzahl, was auch bedeutete, dass ich meine Funktion als Rektorin aufgeben musste. Es bedeutete aber auch, dass ich mit einem reduzierten Einkommen zurechtkommen muss und später mit einer geringeren Pension. images

Noch schwieriger wird die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für alle, die im Schichtdienst arbeiten: Krankenschwestern, Altenpflegekräfte, Mitarbeiter(innen) von Airlines, Bus- und Zugpersonal, Hotelangestellte, Polizistinnen und Polizisten – insbesondere, wenn sie alleinerziehend sind, wie das folgende Beispiel zeigt:

Laura, 41:

images Ich bin alleinerziehende Mutter und Einzelhandelskauffrau, aber die Arbeitszeiten im Einzelhandel machten es mir unmöglich, für die Betreuung meiner 7-jährigen Tochter zu sorgen, und eine private Betreuung konnte ich mir nicht leisten. Um Beruf und Familie zu vereinbaren, arbeite ich jetzt drei Tage pro Woche nachts in einem Hotel. An zwei Tagen übernachtet meine Tochter bei der Oma, einmal pro Woche schläft sie bei ihrer Patentante. Wenn es hart auf hart kommt, muss sie auch schon mal nachts allein zu Hause bleiben, mit dem Notfallhandy neben dem Bett und der Nachbarin, die Bescheid weiß. Ideal ist das alles nicht, aber so bleibt mir zumindest mehr Zeit, um mich um meine Tochter zu kümmern. Zeit für mich selbst habe ich bei diesem Arrangement nicht, denn ich manage nebenbei noch den Haushalt, d. h., ich koche, wasche und putze, und ich helfe bei den Hausaufgaben. Dabei bleibt wenig Raum für meine eigenen Bedürfnisse. images

Wer alleinerziehend ist, muss sich zwischen Nachwuchs, Beruf und Privatleben „aufteilen“ und mit dem schlechten Gewissen zurechtkommen, zu wenig Zeit für sein Kind zu haben.

Aber auch der Wiedereinstieg in den Beruf nach der Elternzeit bereitet oft Probleme. Theoretisch gibt es in Deutschland einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz, in der Praxis kann es aber schwierig werden, einen zu bekommen. In der Schweiz haben nur Kinder in den Kantonen Basel-Stadt und Genf einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. In Österreich wird derzeit intensiv über einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung diskutiert. Besonders kompliziert wird es für Eltern, die im Schichtdienst arbeiten, denn die meisten Kitas (Kindertagesstätten) haben Öffnungszeiten zwischen 7 und 17 Uhr. Was passiert mit den Kindern, wenn die Frühschicht bereits um 6 Uhr beginnt oder die Spätschicht erst um 21 Uhr endet?

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Im Jahr 2019 haben ca. 16 % der Erwerbstätigen im Schichtdienst gearbeitet. Die Abend- und Nachtarbeit hat in den letzten 20 Jahren zugenommen: Während Selbstständige häufiger am Abend arbeiten, arbeiten unselbstständig Tätige häufiger nachts. Was in den Zahlen nicht abgebildet ist: wie viele Eltern (vor allem Mütter) ihre Jobs aufgeben oder wechseln, weil die Arbeitszeiten nicht mit den Zeiten der Kinderbetreuung kompatibel sind.9

Wenn Frauen nach den größten Karrierehindernissen gefragt werden, nennt über die Hälfte der befragten Mütter (58 %) die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Für Mütter bedeutet die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fast immer Verzicht oder Einschränkung ihrer Karriere. Dies wird auch durch eine Studie der Bertelsmann Stiftung belegt.10

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein sehr schwieriges Thema und oft nur eine Illusion. Zugegeben wird das aber nur selten, denn wer gibt schon gerne zu, dass er den gesellschaftlichen Erwartungen nicht oder nur unter enormem Stress entsprechen kann?

Die Journalisten Marc Brost und Heinrich Wefing zeigen in ihrem Buch „Geht alles gar nicht. Warum wir Kinder, Liebe und Karriere nicht vereinbaren können“ 11 anhand anonymer Interviews mit Eltern, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oft nur eine Illusion ist. Das hochaktuelle Werk entlarvt die von Wirtschaft und Politik beschworene „Vereinbarkeitslüge“ von Job, Familie und Selbstverwirklichung aus Männersicht.

Eltern hören und lesen überall die Botschaft der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und erfahren in ihrem eigenen Leben, dass es meist zwar irgendwie funktioniert – aber nur um den Preis der Vernachlässigung der Kinder, des Partners und der eigenen Bedürfnisse.

Dieser Gegensatz zwischen einem allgegenwärtigen gesellschaftlichen Anspruch und dem Erleben des Scheiterns in der Realität ist der ideale Nährboden für Stress. Das Ergebnis ist eine erschöpfte Gesellschaft aus Männern und Frauen, die verzweifelt versuchen, zwei oder drei Leben in einem einzigen zu führen.

Die (Un-)Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein Dauerthema in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Lange galt es als Frauenthema, wie die Soziologin Arlie Hochschild bereits 1990 in ihrem Buch „The Second Shift“ (Die zweite Schicht)12 einprägsam aufzeigte. Auch heute leisten Mütter den Großteil der Haus- und Sorgearbeit (Care-Arbeit), auch wenn sie voll erwerbstätig sind. Zugleich sind ihre Einkommens- und Aufstiegschancen nach wie vor geringer als die von Vätern und kinderlosen Frauen. Immer mehr Frauen, vor allem hochqualifizierte, verschieben ihre Familienplanung oder bleiben kinderlos. Kinder und Karriere schließen sich für Frauen häufig immer noch aus. Seit einigen Jahren gewinnt das Thema auch bei Männern an Bedeutung. Väter übernehmen nach wie vor mehrheitlich die Rolle der Familienernährer, obwohl sich eine wachsende Zahl von ihnen wünscht, weniger Zeit mit Erwerbsarbeit und mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Die Vereinbarkeitsfrage ist also eine geschlechtsspezifische: Für Mütter geht es um mehr Teilhabe am Erwerbsleben und berufliche Chancen, für Väter um mehr Teilhabe an der Sorgearbeit und am Familienleben.

Das Predigen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist insofern nichts anderes als der Versuch, zu verschleiern, was ganz offenkundig ist: Die totale Mobilisierung aller Arbeitsfähigen für die Wirtschaft zehrt an der Substanz. Sie wird bezahlt durch psychische Erschöpfung und vor allem durch weniger Kinder, was zur Verschärfung des demografischen Ungleichgewichtes beiträgt. Solange weiterhin die Prioritäten verdreht bleiben, solange also das Bedürfnis der Wirtschaft nach menschlicher Arbeitskraft immer Vorrang hat, wird das illusionäre Versprechen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine Quelle dauernder Enttäuschung sein.

Die Autorinnen Susanne Garsoffsky und Britta Sembach entlarven in ihrem Buch „Die Alles-ist-möglich-Lüge. Wieso Familie und Beruf nicht zu vereinbaren sind“ 13 die These etlicher Ratgeber, Politiker und selbst erklärter Supereltern, dass der schwierige Spagat zwischen Karriere und Familie lediglich eine Frage der richtigen Lebenseinstellung sei. Die Autorinnen, erfolgreiche Journalistinnen, bekennen, dass sie über lange Strecken ihres Lebens zu kurz kamen, erklären, warum Eltern nach wie vor einen schweren Stand in der Arbeitswelt haben, und entwickeln Perspektiven, wie man das ändern könnte.

Eine wachsende Zahl junger Frauen und Männer löst die Vereinbarkeitsillusion auf einfache Weise auf: Sie verzichten auf die Gründung einer Familie. Sie flexibilisieren ihr Leben: keine Kinder, kein Betreuungsproblem, kein schlechtes Gewissen, kein Stress.14

Überforderung der Eltern durch gestiegene Anforderungen

Eltern sind wahre Zirkuskünstler. Sie versuchen, immer so viele Bälle wie möglich gleichzeitig in der Luft zu halten. Die Bälle wechseln mit dem Alter der Kinder, doch weniger werden es nie. Das hat Folgen: Immer mehr Eltern fühlen sich durch die vielfältigen Anforderungen, die an sie gestellt werden, überfordert und erschöpft. Der moderne Familienalltag ist zu einem Gesundheitsrisiko geworden.

Mehr als die Hälfte aller Mütter und Väter in Deutschland halten die Ansprüche an Eltern heute für höher als vor 30 Jahren. Das geht aus der bereits erwähnten repräsentativen Befragung für die Zeitschrift „Eltern“ hervor. 59 Prozent der Teilnehmer waren dieser Meinung.15

Was aber sind heute die Ursachen für die zunehmende Überforderung der Eltern?

Ständiger Zeitdruck, die berufliche Belastung und das Vereinbaren von Familie und Beruf sind die Hauptbelastungsfaktoren. Hinzu kommen die gestiegenen Ansprüche in der Leistungsgesellschaft. Immer schneller soll immer mehr erledigt werden, wir werden von Reizen überflutet und ertrinken in Informationen. Wer eine Familie hat, ist 24 Stunden am Tag verantwortlich. Schule, Job und Freizeit sind eng durchgetaktet. Kleine Einbrüche im System – Kind krank, Tagesmutter fällt aus – rauben schnell viel Energie.

Evolutionär gesehen lebt der Mensch am besten in Verbünden: früher in Stämmen, später in Großfamilien. Eine Kleinfamilie ist keine solche Struktur. Sie muss sie sich daher schaffen, indem sich Eltern gegenseitig unterstützen, nach den Kindern der anderen schauen und Besorgungen füreinander übernehmen.

Insbesondere der schnelle gesellschaftliche Wandel unserer Zeit und die Aufweichung von Normen und Werten führt dazu, dass Handlungsmuster früherer Generationen nicht unhinterfragt übernommen werden können, sondern vielfach erst diskutiert und neu aufgebaut werden müssen.

Die steigenden Herausforderungen der Eltern haben aber vor allem damit zu tun, dass heute in der Regel beide Partner erwerbstätig sind und die verschiedenen Lebensbereiche und Aufgaben koordiniert werden müssen. Darüber hinaus setzen die steigenden Anforderungen an die Bildung und Förderung der Kinder und der zunehmend große Einfluss der Medien Eltern unter Stress.

Laut Gesetz haben Eltern und Schule den Auftrag, Kinder und Jugendliche zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu erziehen. Es war dabei lange klar, wer welche Aufgaben übernimmt. Doch diese Arbeitsteilung gerät seit einiger Zeit mehr und mehr aus dem Gleichgewicht und die Erziehung damit aus dem Ruder.

Lehrer beklagen, dass Eltern immer weniger in der Lage seien, ihren Teil der Erziehungsarbeit zu leisten. Eltern haben den Eindruck, dass sie die Orientierung bei der Erziehung ihrer Kinder verloren hätten – mit zum Teil dramatischen Folgen.

Kinderpsychiater, Therapeuten und Erziehungsexperten registrieren seit Jahren eine stetig wachsende Zahl von Beschwerden aus dem Schulbereich. Ein Teil des Problems sei, dass immer mehr Kindern das Wort Nein aus dem Elternhaus nicht mehr bekannt sei und ihnen auch Toleranz und Respekt vor anderen nicht beigebracht würden.

Der Blick auf die Zahlen der amtlichen Schulstatistik belegt, dass der Anteil der Kinder, denen ein besonderer Förderbedarf im Bereich emotional-sozialer Entwicklung bescheinigt wurde, in den letzten Jahren deutlich angestiegen ist. Im Jahr 2007 hatten rund 0,6 Prozent aller Schüler bis zur 10. Klasse eine solche Diagnose. 2016 waren es bereits 1,2 Prozent. Das heißt: In den deutschen Klassen saßen zuletzt rund 87.000 Schüler,16 bei denen eine Verhaltensauffälligkeit offiziell bestätigt wurde. Die Dunkelziffer ist aber deutlich höher. Auffallend ist, dass der soziale Hintergrund keine große Rolle spielt; Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten.16

Die Autoren der Studie sehen eine Ursache für diese Entwicklung im Elternhaus der Kinder. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelinge nicht so, wie sie gelingen sollte. Eltern seien oft nicht mehr in der Lage, die Kräfte aufzubringen, die es braucht, um ein Kind zu erziehen. Doch es seien eben die Eltern, die die „Kernerziehungskompetenz“ haben. Die Schule könne nicht allein richten, was zu Hause nicht vorgelebt werde. Um ihren Anteil am Erziehungsauftrag zu erfüllen, seien Lehrer auf die Kooperation der Eltern angewiesen. Doch offenbar seien immer mehr Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert.

Wie schwierig es für Mütter und Väter oft ist, ihren Erziehungsauftrag und zugleich ihre eigenen Ansprüche zu erfüllen, kann ich aus eigener Beratungspraxis bestätigen. Ich merke immer wieder, dass auf Eltern ein enormer Druck lastet. Oft müssen beide Elternteile arbeiten, um die Familie zu versorgen und ihre Existenz zu sichern. Weil Eltern es infolgedessen nicht mehr schaffen, ihre Kinder zu erziehen, steigen die Anforderungen an Schulen und Lehrer. Immer häufiger stehen daher nicht Mathematik und Englisch im Mittelpunkt des Unterrichts, sondern das soziale Miteinander. Und selbst das Erlernen grundlegender Alltagsfertigkeiten wird inzwischen auf die Schule übertragen: das Schleifebinden und das Halten eines Stifts.

Neben der doppelten Erwerbsarbeit der Eltern ist auch der Verlust von Erziehungswissen und Erziehungstradition in den Familien ein Grund für die Unsicherheit und Überforderung von Eltern. Wie verzweifelt Eltern oft sind, wenn sie mit der Erziehung nicht mehr weiterwissen, erfahren immer mehr Kinder- und Jugendpsychiater. Sie therapieren Kinder, die so verhaltensauffällig sind, dass sie in der Schule nicht mehr zurechtkommen, und beobachten, dass sich seit Mitte der 1990er-Jahre etwas verändert hat. Früher seien Kinder in einer Umgebung aufgewachsen, in der sich ihre Psyche ihrem Alter gemäß entwickeln konnte. Eltern hätten sich bei der Erziehung ihrer Kinder stark auf ihre Intuition gestützt. Heute dagegen fordere die immer schnelllebigere Welt andauernd die Aufmerksamkeit der Mütter und Väter. So reagierten sie oft nur noch auf das, was von allen Seiten auf sie einprassle: auf die Nachrichten auf dem Smartphone, auf den Telefonanruf oder auf das Gequengel des Kindes, das auf diese Weise Beachtung sucht. Das Kind macht dann die Erfahrung, dass sich die Erwachsenen steuern lassen. Statt konsequent zu bleiben, gäben die Eltern bei jedem Gejammer nach. Das aber sei fatal für die Entwicklung der Psyche.

Wenn Kinder dauernd erfahren, dass sie sich gegenüber ihren Eltern durchsetzen können, fällt es ihnen schwer, sich von anderen etwas sagen zu lassen. In der Schule machen sie dann, was sie wollen, und arbeiten, wenn es ihnen passt. Stellt ein Lehrer plötzlich Ansprüche oder übt gar Kritik, kann es zu einer massiven Arbeitsverweigerung kommen, weil die Kinder nie gelernt haben, damit umzugehen. Erziehung ist deutlich mehr als die Vermittlung von Regeln, es geht um die Bildung der Psyche, und dafür brauchen Kinder feste Bezugspersonen und Abläufe, an denen sie sich orientieren können.

Aber auch Arbeit und Geldsorgen bringen besonders gestresste und überforderte Eltern, besonders Mütter, an ihre Grenzen. Sie fühlen sich überfordert und reagierten genervt, wenn sich ihre Kinder mit dem Lesen, Schreiben oder Rechnen besonders schwertun. Eltern stehen unter Druck, weil sie ihr Kind ja bestmöglich unterstützen wollen. Kinder verweigern oder boykottieren das Erledigen der Hausaufgaben, wenn sie wiederholt die Erfahrung machen, dass sie sehr lange dafür brauchen oder die Aufgaben einfach nicht schaffen. Die vielen zusätzlichen Belastungen führen in vielen Familien zu Spannungen und diese beeinträchtigen das Familienklima.

Was macht Erziehung heute so schwierig?

Illusionäre Vorstellungen von Elternschaft und Familienleben

Weit verbreitet unter heutigen Eltern ist die Orientierung am Idealbild einer perfekten Familie und perfekter Eltern. Genährt wird diese Illusion von Bildern, die die Werbung vermittelt. Diese Idealisierung findet ihre Fortsetzung in den Familieninszenierungen in sozialen Medien.

Das Bild dieser „perfekten Familie“ steht im krassen Gegensatz zur Realität. Die Individualisierung in unserer Gesellschaft hat zur Folge, dass sich Familien sehr verändert haben und neue Familienformen (siehe „Vielfältige Formen der Elternschaft“, S. 39 ff.) entstanden sind. Es ist erstaunlich, dass in unseren unsicheren Zeiten, in denen z. B. in Städten jede zweite Ehe vor dem Scheidungsrichter endet, die perfekte Familie als Hort der Beständigkeit, der Ruhe und Geborgenheit gilt.

Das Bild der perfekten Familie steht offenbar umso klarer und strahlender da, je brüchiger der Rahmen geworden ist. Gab es bis vor wenigen Jahren noch klare Rollenvorschriften für die Mutter bzw. den Vater, müssen Beziehungen und Rollen heutzutage neu austariert und Zuständigkeiten neu verhandelt werden.

Fehlende Orientierung durch veränderte Erziehungsstile

In der Erziehung ihrer Kinder können sich Eltern nicht mehr an dem orientieren, was sie durch ihre Erziehung und Prägung erfahren haben, denn es hat sich zwischenzeitlich viel verändert.

Während des Nationalsozialismus schrieb die Ärztin Johanna Haarer in ihrem Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ 17, dass zu viel Blick- und Körperkontakt Kinder verweichlichen könnte und sie verzogen werden könnten. Auch hieß es, dass Schreien die Lunge stärke, also gut für das Kind sei, und es keinen Trost brauche.

Das Buch von Johanna Haarer blieb mit seiner Ideologie des autoritären Erziehungsstils mit der Forderung nach Regelmäßigkeit, Disziplin und Strenge der Mutter noch lange nach dem Nationalsozialismus stilbildend. Erst in den 1960er-Jahren veränderte sich der Erziehungsstil grundlegend. Statt Gehorsam stand das Gegenkonzept, die antiautoritäre Erziehung, im Fokus. Das Kind durfte alles machen, was es wollte.

Seit den 1980ern ist vor allem ein Erziehungsstil populär, dessen Motto ist: Beziehung statt Erziehung. Damit sind aber auch die gesellschaftlichen Erwartungen an Eltern gestiegen. Sie müssen sich intensiver mit Themen wie Gesundheit, Ernährung oder Nutzung digitaler Techniken und Medien beschäftigen, um mit der Entwicklung ihrer Kinder Schritt zu halten.

Eine weitere große Veränderung ist der Umgangston in der Familie. Erziehen wird auch dadurch erschwert, dass Kinder immer fordernder, grenzenloser und übergriffiger werden, weil ihre Eltern ihnen keine Grenzen setzen. Häufig fragen sich Eltern, warum ihre Kinder so respektlos sind. Nach Auffassung von Erziehungsexperten ist der Grund dafür unter anderem ein partnerschaftliches bzw. demokratisches Erziehungsmodell.

Früher war in vielen Familien die klare Ansage an der Tagesordnung. Heute suchen Eltern das Gespräch mit den Kindern und wollen mit ihnen verhandeln, statt etwas einfach zu bestimmen. Das kann als positive Entwicklung gesehen werden, birgt aber auch Gefahren, denn manchmal brauchen Kinder klare Grenzen und Leitlinien.

Wenn Kinder und Jugendliche als ernstzunehmende Gesprächspartner mit einer eigenen Meinung betrachtet werden, kann das dazu führen, dass sich Eltern von ihnen steuern lassen. Das kann zur Folge haben, dass den Kindern der Respekt vor ihren Eltern verloren geht und damit auch vor Erwachsenen im Allgemeinen. Beginnen Kinder, ihre Eltern zu steuern und nicht umgekehrt, können sie sich nur schwer in ein soziales Gefüge einordnen und keine Konfliktfähigkeit entwickeln. Statt willensstark werden sie willkürlich und haben zu wenig Frustrationstoleranz, um gefestigte, einfühlsame, leistungsfähige und verantwortungsbewusste Erwachsene zu werden. Sie tendieren zum notorischen Verweigern, sind fordernd und schwer motivierbar.

Wenn Kinder ihre eigene Persönlichkeit entwickeln, trainieren sie ihr Durchsetzungsvermögen. Die Trotzphase und die Pubertät führen automatisch zum Machtkampf. Dies ist eine entwicklungspsychologische Notwendigkeit und kein persönlicher Angriff auf die Eltern. Damit der Prozess zum Wohle aller gelingt, müssen die Eltern die Zügel in der Hand behalten und gewaltfrei, aber nicht machtlos agieren. Kinder müssen erfahren, dass man ihre Bedürfnisse ernst nimmt und dass „Bitte“, „Danke“ und gute Argumente sie weiterbringen.

Eltern dürfen nicht vor lauter Verständnis permanent nachgeben. Erleben Kinder ihre Erzieher als schwach, können sie nicht zu ihnen aufschauen oder sich an ihnen orientieren.

Eltern plagt oft ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihre Kinder in Fremdbetreuung geben und nicht ausreichend für sie da sein können. Und aus diesem schlechten Gewissen entwickeln sich Konfliktvermeidung und das Verwöhnen der Kinder.

Warum so viele Eltern verunsichert sind und sich mit der Erziehung ihrer Kinder schwertun, hat häufig damit zu tun, dass sie oft selbst antiautoritär erzogen wurden und weder Grenzen noch Orientierung vermittelt bekamen. Sie können weder auf Regeln noch Grenzen zurückgreifen, was sie verunsichert und sie bei der Suche nach dem richtigen Maß zwischen Verwöhnen und Fördern kapitulieren lässt.

Unabhängig davon, wie heutige Eltern als Kinder erzogen wurden – die Kindererziehung steht heute vor ganz anderen Aufgaben als damals. Die Vermittlung eines gemäßigten und hinterfragenden Umgangs mit Medien ist eines der populärsten Themen der modernen Erziehung. So schnell, wie sich unsere Gesellschaft entwickelt, ändern sich auch die Anforderungen an eine gute Erziehung. Kinder von heute brauchen neben einer liebenden und fürsorglichen Familie vor allem jemanden, der sie auf die wachsenden Ansprüche einer sich ständig verändernden Welt vorbereitet.

Kinder brauchen Freiheit und Orientierung. Sie wollen in ihren Gefühlen und Bedürfnissen und in ihrer Wesensart an- und ernst genommen werden. Die Möglichkeit der Mitsprache stärkt ihr Selbstwert- und Verantwortungsgefühl. Das darf jedoch nicht mit Gleichberechtigung und Rollentausch verwechselt werden.

Verabschieden sich Eltern in falsch verstandener Partnerschaftlichkeit von ihrer Führungsrolle, entsteht das allgemeine Chaos, das wir heutzutage vielfach antreffen: Eltern und Pädagogen sind überfordert, Kinder verlieren Halt und Orientierung, wodurch sie in ihrer Entwicklung gehemmt werden.

Überbehütung und Kontrolle

Oft ist Angst der Auslöser dafür, dass Eltern ihre Kinder überbehüten. Anstatt die Welt zu erobern, sitzen die Kinder dann in einem „gepolsterten Laufstall“. Die Tatsache, dass es immer mehr Einzelkinder gibt, ist auch ein Grund dafür, dass Eltern sie wie ein Kleinod behüten. Das kann weitreichende Folgen haben.

Sie kreisen um ihre Kinder wie ein Helikopter um einen Tatort, daher wahrscheinlich auch der Name „Helikoptereltern“. Aus Angst um die Kinder kennt die Fürsorge keine Grenzen. Wenn die Fürsorge allerdings zu groß wird und Kinder nicht die Chance bekommen, eigene Erfahrungen und Fehler zu machen, um daraus zu lernen, und nicht lernen, mit Scheitern umzugehen, können sie nicht selbstständig werden.

In jedem Alter gibt es bestimmte Entwicklungsaufgaben, die bewältigt werden müssen, um den nächsten Schritt gehen zu können. Überbehütung und Kontrolle führen zur Einengung des Erfahrungs- und Entwicklungsraums von Kindern.

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Helikoptereltern wollen ihrem Nachwuchs nichts mehr zumuten. Andererseits sind sie überehrgeizig und packen die Terminkalender ihrer Sprösslinge voller als die eines Managers. Sie übertreiben es, wenn es um die Bildung ihres Nachwuchses geht. Besonders die überengagierten Eltern aus dem Mittelstand wollen ihre Kinder in allen Lebensphasen behüten und die Fäden fest in der Hand halten. Elternsprechstunden und Elternveranstaltungen gehören inzwischen sogar an Universitäten zum festen Programm und Eltern gehen für ihre Kinder in die Studienberatung.18

Professor Klaus Hurrelmann stellt fest, dass Eltern ihren Kindern zu wenig Freiraum geben, und beobachtet, dass Kinder über eine immer geringere Frustrationstoleranz verfügen, häufig unter dem überfürsorglichen Erziehungsstil ihrer Eltern leiden und gleichzeitig einem immensen Leistungsdruck ausgesetzt sind.19

Hurrelmanns Beobachtungen passen zu den Ergebnissen der „Generation Alpha“-Studie. Laut dieser Studie sind die unter 10-Jährigen zu behütet, sozial auffällig und haben sprachliche Defizite. Sie verfügen über eine schlechte Impulskontrolle, sind emotional instabil und schneiden in der Folge in der Schule schlechter ab.20

Kinder haben einen durchgetakteten Alltag und kaum Freiräume, um sich kreativ auszuprobieren. Die Totalüberwachung durch ihre Eltern wirkt sich ähnlich aus wie Vernachlässigung und verhindert, dass sie selbstständig werden, sich etwas zutrauen und Selbstverantwortung übernehmen.21

Was ich selbst in meiner Kindheit in den 1950ern erlebt habe, wäre heute undenkbar oder sogar verboten. Wir wurden nach dem Leitbild der „schwarzen Pädagogik“ erzogen, es gab noch die Prügelstrafe und Stubenarrest, dafür kamen wir ohne Kindersitz im Auto und ohne Spielzeugnormen aus. Alles war irgendwie unvorsichtiger. Wir kletterten noch auf Bäume, bauten uns Baumhäuser, bretterten ohne Helm mit dem Fahrrad über Buckelpisten, liefen zu Fuß zur Schule und kamen erst im Dunkeln vom Spielen nach Hause. Und alles ohne Handy. Medizinflaschen, Steckdosen und Schubladen waren damals nicht kindersicher. Die Fläschchen aus der Apotheke konnten wir ohne Schwierigkeiten öffnen, genauso wie die Flasche mit dem Desinfektionsmittel. Wenn wir Durst hatten, tranken wir direkt aus dem Gartenschlauch oder zu fünft aus derselben Limonadenflasche, und es ist niemand an den Keimen gestorben. Den Mut zum Risiko konnten wir fast ungehindert ausleben. Wir hingen kopfüber vom Klettergerüst, fielen von Bäumen und Mauern, schürften uns die Knie auf, brachen uns Knochen und schlugen uns Zähne aus. Niemand fragte nach der Aufsichtspflicht und niemand wurde verklagt. Wenn es regnete, spielten wir „Mensch ärgere dich nicht“, „Mühle“ oder „Dame“. Wir hatten weder Playstation noch Smartphone oder Tablet, und einen Fernseher hatten wir auch noch nicht. Wir streunten durch die Felder, stauten den Bach auf und waren immer dreckig. Die schlimmste Strafe war Hausarrest. Wenn wir eine Uhr brauchten, schauten wir hoch zum Kirchturm.

Wenn Kinder sich heute verabreden wollen, brauchen sie ein Handy. In der Küche hängen Terminpläne. Auf dem Fußballplatz, ein paar Häuser weiter, bolzt niemand. Der neunjährige Leon hätte noch Donnerstag nachmittags Zeit, aber sein bester Freund sitzt bei der Nachhilfe, sonst schafft er in acht Jahren das Abitur nicht. Leons zweitbester Kumpel wohnt einen Kilometer weiter, darf aber allein nicht raus. Cedric von gegenüber übt nach den Hausaufgaben Klavier und Felix, zehn, hockt lieber am Computer.

Vielen „Helikoptereltern“ ist nicht bewusst, dass sie loslassen und ihren Kindern mehr vertrauen müssen.

Josef Kraus, Präsident des deutschen Lehrerverbandes und Autor des Buches „Helikopter-Eltern“22, empfiehlt Eltern, wieder gelassener zu sein, ihrer Intuition zu vertrauen und nicht zu viel Leistungsdruck auszuüben. Er fordert: „Schluss mit Förderwahn, Kontrolle, Überbehütung und Verwöhnung.“

Um sich von der Überbehütung und Kontrolle des eigenen Kindes zu verabschieden, besteht die wichtigste Aufgabe der Eltern darin, loszulassen und zu lernen, mit ihren eigenen Ängsten umzugehen. Sie können ihr Kind ohnehin nicht lebenslang vor allem beschützen, sonst müssten sie es ja zu Hause einsperren. Eltern können nur die bestmöglichen Voraussetzungen schaffen und darauf vertrauen, dass am Ende alles gut geht.

Fehlendes Erziehungswissen und mangelnde Kompetenz

Viele Eltern halten mit ihrem ersten Kind zum ersten Mal ein Baby auf dem Arm. Es fehlt ihnen an Erfahrungswerten im Umgang mit (Klein-)Kindern, es mangelt an biografischen Lernmöglichkeiten, etwa als älteres Geschwisterkind oder im Verwandten- und Freundeskreis der eigenen Eltern. Stattdessen werden schon während der Schwangerschaft zwei bis drei Erziehungsratgeber gelesen, denn die Eltern möchten bei ihrem ersten Kind alles perfekt machen und nehmen die Verantwortung, die auf sie zukommt, sehr ernst. Keinesfalls wollen sie den Chancen ihres Kindes in irgendeiner Weise im Wege stehen. Daraus kann sich ein wahrer Strudel aus überzogenen Ansprüchen an sich selbst, Ängsten und Sehnsüchten ergeben.

Mit diesen Vorbereitungen erwerben sich Eltern Erziehungswissen, was aber längst noch keine Erziehungskompetenz ist. Die zeigt sich erst in der konsequenten Anwendung des Wissens.

Es fragt sich, wie gut junge Eltern auf die Erziehungsaufgabe vorbereitet sind, denn die ersten drei Jahre im Leben ihres Kindes sind entscheidend für seine weitere Entwicklung. Während dieser Zeit erhält es eine Grundprägung, durch die es für Kita und Schule sozialisiert wird, und soll Selbstvertrauen gewinnen.

Der Erziehungswissenschaftler und Sozialpädagoge Albert Wunsch stellt in seinem Buch „Die Verwöhnungsfalle. Für eine Erziehung zu mehr Eigenverantwortlichkeit“23 fest, dass Kinder und Jugendliche von heute verweichlicht und schlecht für das Leben gerüstet sind. Sie bekämen ein zu großes Maß an Aufmerksamkeit, das ihnen nicht guttue und dazu führe, dass sie ein überzogenes Ich entwickeln. Er schreibt, dass die Kinder heute ein geringes Durchhaltevermögen haben, schnell aufgeben und kaum belastbar sind. Gleichzeitig sei ein übersteigertes Selbstbewusstsein festzustellen, die Kinder bilden sich ein, viel zu können, was aber nicht stimme, und das führe dazu, dass sie für die Herausforderungen des Lebens nicht gut gerüstet seien.

Als Ursachen für diese Defizite sieht Albert Wunsch die mangelhafte Erziehung durch die Eltern, die seiner Ansicht nach konfliktscheu sind, ihren Erziehungsauftrag nicht wahrnehmen und stattdessen ihre Kinder verwöhnen und sie zu Prinzen und Prinzessinnen erziehen. Seit 20 Jahren sei zu sehen, dass Kinder und Jugendliche immer weniger in die Ernsthaftigkeit des Lebens hineingeführt werden, man halte praktisch eine Art Schonwiese für sie bereit – anschließend, wenn das reale Leben einsetze, fänden sie sich darin nicht zurecht.

Albert Wunsch ist der Meinung, dass die Eltern heutzutage Konflikte vermeiden wollen, indem sie keine Positionen beziehen – vor lauter Sorge, autoritär zu wirken. Die Eltern orientieren sich heute intensiver an den Kindern als die Kinder an den Eltern, wollen Freunde und Kumpel ihrer Töchter und Söhne sein. Damit aber konterkarieren sie ihren Erziehungsauftrag.

Was aber bedeutet es, eine hohe Erziehungskompetenz zu besitzen?

Erziehungskompetenz ist der Eckpfeiler einer entwicklungsfördernden Erziehung und bedeutet, dass man die Führung übernimmt und Kinder mit bedingungsloser Liebe und Konsequenz stärkt, ihnen Grenzen setzt und ihr Selbstvertrauen fördert. Darüber hinaus geht es um das Wissen, dass Kinder andere Kinder brauchen, dass sie Erfahrungen mit der Schule machen müssen und dass Eltern ihnen Medienkompetenz beibringen müssen, um sich im Umgang mit Medien (Fernseher, Video, Computer, Handy und sozialen Medien), Werbung und Konsum zurechtzufinden.

„Eltern, erzieht uns endlich wieder!“ Mit dieser Forderung betitelte der „Stern“ eine Reportage zum Familienalltag in Deutschland. Im Auftrag des „Stern“ führte das Rheingold-Institut in Köln eine Untersuchung zum Thema „Fordernde Könige oder gefangen in der Überforderung? Kinderstudie zum Alltags-Erleben der Kinder“ durch.24 Dabei wurden Mädchen und Jungen zwischen acht und fünfzehn Jahren zu ihren Ängsten, Sorgen und Wünschen befragt. Zentrales Ergebnis: Die Kinder erleben ihre Welt zunehmend als labil und brüchig. Sie erleben vom Alltag erschöpfte Eltern, die mal sehr streng, dann wieder als Kumpel auftreten. Sie vermissen zuhause neben Sicherheit auch eine klare Ordnung – mit verlässlichen Uhrzeiten, eindeutigen Ansagen von Vater oder Mutter und einer klaren Wertestruktur. Sie wünschen sich Eltern, die wieder als Eltern auftreten, sie Kind sein lassen und sich trauen, einen eigenen Standpunkt zu beziehen, gegen den man auch rebellieren kann.

Worin zeigt sich Erziehungskompetenz?

Erziehung bedeutet, Kinder stark für das Leben zu machen, ihnen zu helfen, ihren Platz in unserer Gesellschaft zu finden und eigenverantwortlich zu handeln. Dies stellt für Eltern eine besondere Herausforderung dar. Eltern wollen heute ihren Kindern ein Maximum an sozialen Kompetenzen und Bildung vermitteln, ohne dass sie dabei auf bewährte Erziehungsmodelle oder Vorbilder zurückgreifen können.

Neben einem veränderten Anspruch an Erziehungskompetenz sehen Eltern sich überfordert, die Erziehung ihrer Kinder und die beruflichen Anforderungen miteinander in Einklang zu bringen. Starke Väter und Mütter sind notwendiger als je zuvor. Sie dürfen sich aber nicht selbst schwächen, weil sie meinen, mit ihren Kindern auf Augenhöhe sein zu müssen. Kinder brauchen Eltern, die wie Leuchttürme sind.

Wie aber kann Erziehungskompetenz gefördert werden?

Erziehungskompetenz und Erziehungswissen sind kein Schulfach. Wer beides nicht von seinen Eltern gelernt hat, kann sich von Erziehungsberatungsstellen unterstützen lassen. Zu den Aufgaben der Erziehungsberatungsstellen gehört die Unterstützung von Eltern und anderen Erziehungsberechtigten bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverantwortung. Diese Beratungsstellen sind bei Jugendämtern und freien Trägern wie der Caritas oder der Diakonie oder bei den Kommunen angesiedelt. In der Erziehungsberatung arbeiten Psychologen und Fachkräfte der sozialen Arbeit, die Eltern dabei unterstützen, ihre Erziehungskompetenz zu stärken und zu fördern.

Perfektionismus

Wer nach Perfektion strebt, der tut das nicht zwangsläufig immer in allen Bereichen des Lebens. Es gibt Menschen, die sich extrem hohe Maßstäbe beim Sport, am Arbeitsplatz oder in ihren sozialen Beziehungen setzen.

Perfektionismus in der Kindererziehung kann zu großen Leistungen führen, doch er kann auch Stress, Leistungsdruck und Schuldgefühle erzeugen und Eltern an ihre Grenzen bringen.

Natürlich wollen alle Eltern das Beste für ihr Kind, aber leider schießen sie mit ihren guten Absichten häufig über das Ziel hinaus. Oft überfordern sie durch allzu hohe Erwartungen nicht nur das Kind, sondern auch sich selbst.

Immer mehr Eltern setzen ihre Kinder – im Glauben, das Beste für ihre Startchancen im Leben zu tun – unter Leistungsdruck. Dabei unterliegen sie dem Irrglauben, damit die Weichen für ein erfolgreiches Leben ihrer Kinder zu stellen, und begründen ihr Fordern damit, dass sie ihr Kind fördern wollen. Es soll zur „Elite“ gehören, und um das zu erreichen, kann man nicht früh genug anfangen, so denken perfektionistische Eltern. Bereits während der Schwangerschaft wird im Kopf das perfekte Kind entworfen. Dabei gilt immer noch das alte Familienmotto: „Unser Kind soll es einmal besser haben.“ Embryos werden bereits mit Mozart „beschallt“, damit sie intelligenter werden. Mütter essen besonders gesundheitsbewusst Biokost und nehmen Folsäure ein, um ihrem Kind von Anfang an die besten Chancen zu geben.

Tausende Kompetenzen sollen schon bis zur Aufnahme in den Kindergarten erworben werden. Eltern kümmern sich heutzutage um jedes Detail der Nachwuchsförderung und versuchen, ihr Kind so früh und so vielfältig wie möglich durch Musik-, Sport- und Sprachunterricht zu fördern, um es wettbewerbsfähig zu machen.

Die Folge ist ein regelrechter Optimierungswahn: Immer mehr Eltern melden ihr Kind in einem Kindergarten an, der Märchen auf Englisch präsentiert und musisch-künstlerische Neigungen fördert. Darüber hinaus wird Logopädie gegen Lispeln oder Psychotherapie bei kleinsten Verhaltensauffälligkeiten in Anspruch genommen. Manche Eltern haben schon ein schlechtes Gewissen, wenn ihr Kind nicht mindestens zwei Förderangebote pro Tag wahrnimmt.

Eltern (meist Mütter) tun alles, um ihren Nachwuchs schon möglichst früh auf die Spur zu setzen, die zu beruflichem Erfolg führt. Spätestens in der Schule wird für viele Kinder der Druck verstärkt. Bereits in der Grundschule bekommen sie intensive Nachhilfe, um die Empfehlung fürs Gymnasium zu erhalten oder statt einer 2 eine 1 zu bekommen.

Autor

  • Dorothee Döhring (Autor:in)

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Titel: Eltern am Limit