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Existenzanalyse und Logotherapie

von Harald Mori (Autor:in)
168 Seiten
Reihe: Praxis Psychotherapie, Band 2

In Kürze verfügbar

Zusammenfassung

Die Reihe „Praxis Psychotherapie“ beleuchtet die in Österreich anerkannten psychotherapeutischen Methoden und zeigt kompakt und verständlich fundiertes Basiswissen, neueste Entwicklungen und die Anwendung in der Praxis auf.
Band 2 rückt die Existenzanalyse und die Logotherapie in den Fokus. Neben einer Einführung in die Methode zur modernen und praktischen Anwendung dieser Richtung der Psychotherapie werden die anthropologische Grundlage, das Menschenbild und die Beziehung zu Leben und Werk von Viktor E. Frankl dargestellt. Dieses Buch soll den Leserinnen und Lesern insbesondere eine überschaubare Information wie auch Anleitung zur Anwendung der Existenzanalyse und Logotherapie in gegenwärtiger psychotherapeutischer Praxis und den benachbarten Fächern (Medizin, Psychologie, Pädagogik, Sozialarbeit, Pflegeberufe) anbieten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel Seite
  • Impressum
  • Prolog
  • Vorwort zur 1. Auflage
  • Vorbemerkung zur 2. Auflage
  • Inhalt
  • 1 Viktor Emil Frankl
  • 2 Grundriss der Existenzanalyse und Logotherapie – Anthropologie
  • 3 Ärztliche Seelsorge – Humanisierung der Psychotherapie
  • 4 Wege zum Sinn
  • 5 Die drei Wertkategorien nach Viktor Frankl
  • 5.1 Schöpferische Werte
  • 5.2 Erlebniswerte
  • 5.3 Einstellungswerte
  • 6 Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn
  • 6.1 Sinnfindung
  • 6.2 Der Aufgabencharakter des Lebens – Leben in Freiheit und Verantwortlichkeit
  • 6.3 Das existentielle Vakuum – die noogene Neurose – das Sinnlosigkeitsgefühl
  • 6.4 Die Vergänglichkeit und der Sinn des Todes
  • 7 Die Glaubensdimension in der Existenzanalyse und Logotherapie
  • 8 Die Anwendung der EALT bei psychischen Störungen
  • 8.1 Angststörungen, Zwangsstörungen und Phobien
  • 8.2 Sexualstörungen
  • 8.3 Schlafstörungen
  • 9 Exkurs zur EALT in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie: Die Bedeutung einer sinnzentrierten Pädagogik für das gelingende Werden der Person
  • 10 Depression
  • 10.1 Lebensmüdigkeit
  • 10.2 Suizidprophylaxe
  • 11 Psychosomatik
  • 12 Psychosen und ähnliche Erkrankungen
  • 13 Moderne Forschung und Positionierung innerhalb der Psychotherapierichtungen
  • 14 COVID-19 und die Sinnfrage – von der Krise zum Neubeginn
  • Nachwort
  • Anhang
  • Literaturempfehlungen
  • Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten
  • Viktor-Frankl-Museum
  • Dokumentation
  • Medizinische Aspekte
  • Harald Mori mit Viktor Frankl
  • Handschriftliche Widmung von Viktor Frankl an Harald Mori
  • Zeittafel Viktor E. Frankl, 26.3.1905–2.9.1997
  • Literaturverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Personenregister
  • Sachregister
  • Danksagung
  • Rückseite

1 Viktor Emil Frankl

Am Sonntag, dem 26. März 1905 wurde der zweite Sohn von Elsa und Gabriel Frankl in der Wiener Leopoldstadt geboren. Die Wehen setzten ausgerechnet im Café Siller am Schwedenplatz ein, jenem Kaffeehaus, das der Begründer der Individualpsychologie, der Arzt Dr. Alfred Adler1, für seine Gesprächszirkel regelmäßig besuchte.

Dass Viktor Frankl knapp 20 Jahre später sein Schüler werden sollte, ahnte man damals nicht. Auch nicht, dass der junge Medizinstudent um 1925 in der Nähe des Anatomischen Instituts auf Sigmund Freud treffen sollte, der, eben in die Berggasse spazierend, von Frankl angesprochen wurde und, als er seinen Namen hörte, fragte: „Viktor Frankl – Wien, 2. Bezirk, Czerningasse 6, Tür 25 – nicht wahr?“ (Frankl 1995, 31)

Die frühen Jahre Frankls waren von seinem Interesse an der Entwicklung der Psychotherapie und dem Medizinstudium geprägt. 1933–1937, in den Jahren des aufkommenden Nationalsozialismus, wurde er am heutigen Otto-Wagner-Spital2 zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie ausgebildet. Kurze Zeit hatte Frankl eine eigene Praxis in der Alser Straße 32, die er im März 1938 nach dem „Anschluss“ wieder aufgeben musste. Frankl arbeitete danach in der kleinen Wohnung in der Czerningasse 6, seinem Geburtsort, und dann zwei Jahre auch als Primarius der Neurologie im Rothschildspital, bis zur Deportation im Herbst 1942.

1926 hielt der junge Mediziner Frankl ein Hauptreferat auf dem internationalen Kongress für Individualpsychologie in Düsseldorf und begann, nachdem er zuvor eine kritische Haltung gegenüber Freuds Psychoanalyse eingenommen hatte, sich auch von der Lehre Adlers abzuwenden, die den Menschen auf das Erreichen einer „Machtposition“ in der Gesellschaft ausgerichtet sah.

1927, bei einer Sitzung des Vereins für Individualpsychologie im Hörsaal des Histologischen Instituts begann Frankl „ihnen […den Mitgliedern des Vereins] auseinanderzusetzen, inwiefern die Individualpsychologie noch immer über den Psychologismus hinauszuwachsen hätte“ (Frankl 1995, 43). Bald danach wurde Frankl von Adler aus dem Verein ausgeschlossen.

Es ist interessant, dass Alfred Adler in seinem Buch „Der Sinn des Lebens“ (1933) schreibt: „Nach einem Sinn des Lebens zu fragen hat nur Wert und Bedeutung, wenn man das Bezugssystem Mensch-Kosmos im Auge hat. Es ist dabei leicht einzusehen, daß der Kosmos in dieser Bezogenheit eine formende Kraft besitzt.“ (Adler 1974, 162) So hatte sich Alfred Adler 1933 selbst mit jenem Thema beschäftigt, das bei Frankl zum zentralen Inhalt seiner Forschung werden sollte. Adler bleibt jedoch bei der Dimension des Machtstrebens als wesentliches Daseinsziel, wie auch Sigmund Freud die Eigenständigkeit und Verantwortlichkeit des Menschen im System „Es-Ich-Über-Ich“ kaum beeinflussbar gebunden sah.

Ein Zeitsprung: 63 Jahre nach dem Ausschluss Frankls durch Adler, hat der inzwischen weltberühmt gewordene Begründer der Existenzanalyse und Logotherapie sich von Dr. Alfried Längle3, einem seiner talentiertesten Schüler, und dessen Gesellschaft zurückgezogen. „Durch die spezifische Weiterentwicklung der EA4 hat sich Frankl 1991 von der GLE5 getrennt.“ (Längle 2016, 215)

Bereits 1929 sprach Frankl in seinen Vorträgen, die er schon als Gymnasiast und danach als Medizinstudent hielt, von „Logotherapie“ und 19386 publizierte er auch den von ihm begründeten Begriff der „Existenzanalyse“.

„Ähnlich der Überwindung des Psychologismus innerhalb der Philosophie durch den Logizismus wird es also darauf ankommen, innerhalb der Psychotherapie die bisherigen psychologischen Abweichungen durch eine Art Logotherapie zu überwinden, das hieße durch das Einbeziehen weltanschaulicher Auseinandersetzungen in das Gesamt der psychotherapeutischen Behandlung […].“ (Frankl 2005, 173)

Logotherapie hat als Begriffshintergrund das griechische Wort „logos“, das neben „Sprache“, „Rede“, „Wort“ und „Vernunft“ auch die für Frankl wesentliche Bedeutung „Sinn“ hat. Die Logotherapie ist nach Frankl eine sinnzentrierte Psychotherapie, weil der Mensch als sinnorientiertes Wesen angesehen wird. Zur Existenzanalyse schreibt Frankl ebenfalls schon 1938: „Wo ist, mit anderen Worten, jene Theorie vom schlechthin seelischen und im Besonderen vom neurotischen Geschehen, die über den Bereich des Psychischen hinauslangend die gesamte menschliche Existenz, in all ihrer Tiefe und Höhe, berücksichtigte und demgemäß als Existenzanalyse bezeichnet werden könnte?“ (Frankl 2005, 167–168)

Bereits 1948 bezeichnete der deutsche Nervenarzt Wolfgang Soucek aufbauend auf der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Individualpsychologie Alfred Adlers „die Existenzanalyse Frankls [als] die dritte Richtung der Wiener psychotherapeutischen Schule“ (Frankl 2005, 258). In der vorliegenden Einführung in die EALT kann die historische Entwicklung dieser Psychotherapierichtung verständlicherweise nur verkürzt dargestellt werden.

In seinem über 3.000 Seiten starken Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie von 1959 hat Viktor Frankl den „Grundriß der Existenzanalyse und Logotherapie“ publiziert. Darin beschreibt er seine Lehre treffend:

„Die Logotherapie und Existenzanalyse sind je eine Seite ein und der selben Theorie. Und zwar ist die Logotherapie eine psychotherapeutische Behandlungsmethode, während die Existenzanalyse eine anthropologische Forschungsrichtung darstellt. Als Forschungsrichtung ist sie offen, und zwar in zwei Dimensionen: sie ist bereit zur Kooperation mit andern Richtungen und zur Evolution ihrer selbst.“ (Frankl et al. 1959, 663)

Diese prägnanten Darstellungen von einigen Stufen der Entstehung und Entwicklung der EALT sind aus gutem Grunde in das Kapitel eingeflossen, in dem es eigentlich um Viktor Frankls Biografie gehen soll. Wie bei den meisten Begründern von psychotherapeutischen Schulen bis etwa in die Mitte des 20. Jahrhunderts ist auch Frankls Leben und Leiden als Holocaustüberlebender untrennbar mit seinem Werk verbunden.

Entgegen einem immer noch verbreiteten Irrtum hat Frankl die Grundkonzepte seiner Psychotherapie noch vor bzw. am Anfang des Zweiten Weltkriegs geschaffen und niedergeschrieben. Das Manuskript seines Hauptwerkes „Ärztliche Seelsorge“ hat er im Ghetto Theresienstadt überarbeitet und in das Futter seines Mantels eingenäht, in der Hoffnung, so würde sein Werk die Nazi-Zeit überstehen. Im Herbst 1944, nachdem er und seine junge Frau Tilly in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau transportiert wurden, musste Frankl im Vorraum zum „Brausebad“ seine Kleidung und somit auch das Manuskript der „Ärztlichen Seelsorge“ abgeben.

Frankls Vater starb 1943 in Theresienstadt, seine Mutter Elsa wurde, gerade 65 Jahre alt, in Auschwitz in der Gaskammer ermordet. Frankl verlor auch seinen älteren Bruder Walter und dessen Frau Else.

Im Dezember 1941 hatte Frankl in Wien noch seine Tilly geheiratet. Sie arbeiteten im letzten jüdischen Spital von Wien, dem Rothschildspital, Frankl als Neurologe, Tilly als Sekretärin und Helferin auf den Stationen. Kurz nach der Heirat verlor das Ehepaar sein ungeborenes Kind. „Es wurde einfach ein Ukas7 herumgereicht, aus dem hervorging, daß von nun an jüdische Frauen, bei denen eine Schwangerschaft festgestellt würde, schnurstracks in ein Konzentrationslager verschickt würden.“ (Frankl 1995, 66) Frankl widmete alle seine Bücher Menschen, die ihm wichtig waren, so auch eines („The Unheard Cry for Meaning“, 1978) diesem ungeborenen Kind: „To Harry or Marion, an unborn child.“

Diese Geste ist charakteristisch für den Humanisten und Arzt Viktor Frankl, der im Leben des Menschen, in dessen Einzigartigkeit und Einmaligkeit eine kosmische oder universale Werthaftigkeit sah, welche sich letztlich dem Verstehen entzieht und nur durch das Erkennen des Menschen sein wahres Wesen berührt.

Die tragischen und erschütternden Erlebnisse in den Konzentrationslagern Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau sowie Kaufering und Türkheim (Nebenlager von Dachau) prägten Viktor Frankl und festigten sein Menschenbild und die Überzeugung von der Bedeutung der Sinnfindung im Leben. „Und so kam ich nach Auschwitz. Es war das experimentum crucis. Die eigentlich menschlichen Urvermögen der Selbst-Transzendenz und der Selbst-Distanzierung, wie ich sie in den letzten Jahren so sehr betone, wurden im Konzentrationslager existentiell verifiziert und validiert. Diese Empirie im weitesten Wortsinn bestätigt den ‚survival value‘ […].“ (Frankl 1995, 75)

Frankls Frau Tilly wurde Ende Oktober 1944 in das Konzentrationslager Bergen-Belsen transportiert. Nachdem das Lager am 15. April 1945 von britischen Truppen befreit wurde, starben viele der über 14.000 Gefangenen an Erschöpfung – darunter auch Frankls junge Frau.

„Ich werde es nie vergessen können, wie ich in der zweiten Nacht in Auschwitz aus dem tiefen Schlaf der Erschöpfung erwachte, geweckt durch – Musik: Der Blockälteste hatte in seiner Kammer, die gleich neben dem Barackeneingang lag, irgendeine Feier veranstaltet, und besoffene Stimmen gröhlten Schlagermelodien. Dann war plötzlich Ruhe – und eine Geige weinte einen unendlich traurigen, selten gespielten, nicht abgedroschenen Tango … Die Geige weinte – in mir weinte etwas mit. Denn an diesem Tage hatte jemand seinen vierundzwanzigsten Geburtstag; dieser Jemand lag in irgendeiner Baracke des Auschwitzer Lagers, also nur ein paar hundert oder ein paar tausend Meter von mir entfernt – und doch unerreichbar; dieser Jemand war meine Frau.“ (Frankl 1987, 73)

Frankl hielt diese Erinnerungen und seine Gedanken zur Unzerstörbarkeit der geistigen Person in seinem berühmtesten Buch fest, das im März 1946 unter dem Titel „Ein Psycholog erlebt das KZ“8 in Wien publiziert wurde. Die erste Auflage erschien noch ohne seinen Namen, da er berichten und nicht sich selbst in Szene setzen wollte. Es war das zweite Buch, das nach den Gräueln des nationalsozialistischen Reiches von den alliierten Siegermächten eine Druckerlaubnis bekam.

Es waren amerikanische Truppen, die am 27. April 1945 das Lager Türkheim bei Dachau und damit auch Viktor Frankl befreiten. Frankl feierte diesen Tag als seinen „Wiedergeburtstag“, an dem ihm sein zweites Leben geschenkt wurde. Zeitlebens war er den US-Soldaten dafür dankbar.

In den 70er-Jahren besuchte Frankl mit seiner zweiten Frau Eleonore9 eine Tagung des Club of Rome10 in Rom. Es kam zu einer denkwürdigen Begegnung des Ehepaares Frankl mit Neil Armstrong, der 1969 als erster Mensch seinen Fuß auf den Mond gesetzt hatte. Armstrong, einer jener Menschen, die die Zerbrechlichkeit des „blauen Planeten“ vom Weltall aus erkannt hatten, hatte großes Interesse an Frankls Person und seinem Werk. Er war von dem, was Frankl mit „Zeit und Verantwortung“11 umschrieben hatte, nämlich die Kostbarkeit des Lebens in seiner Einzigartigkeit und Einmaligkeit, begeistert.12

Erst knapp vier Monate nach seiner Befreiung gelangte Frankl im August 1945 über Bad Wörishofen und München auf der Ladefläche eines offenen Lastwagens nach Wien. Innerhalb von Tagen erfuhr er vom Tod seiner Mutter Elsa, seines Bruders Walter und dessen Frau und schließlich auch vom Tod seiner Frau Tilly. Frankl war zutiefst erschüttert.

Mithilfe seines Freundes Bruno Pittermann13 konnte Frankl, der sofort wieder als Arzt tätig wurde, ab 1946 in der Wiener Städtischen Allgemeinen Poliklinik in der Mariannengasse 10 die Primarstelle für Neurologie annehmen, die er 25 Jahre lang innehaben sollte.

Es ist bemerkenswert, dass der Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, der vorrangig als Psychiater und Psychotherapeut tätig war, 27 Jahre lang als Vorstand von neurologischen Abteilungen14 arbeitete, also ein zutiefst somatisch tätiger Arzt war, der vielleicht gerade deshalb die Dimensionen von Psyche und Geist in die Schau der gesamten Person des leidenden Menschen integrieren konnte.

Die Poliklinik blieb bis 1998 als Spital erhalten und ihre denkmalgeschützte Fassade befindet sich noch heute in der Mariannengasse 10. Frankl selbst wohnte seit 1946 bis zu seinem Tode 1997 in der Mariannengasse 1, mittlerweile fast so bekannt wie Sigmund Freuds Berggasse 19.

Im Frühling 1946 benötigte die Kieferchirurgie der Poliklinik dringend ein Bett:

„1946. Ich mache, begleitet von meinem ärztlichen Mitarbeiterstab, die Visite auf meiner (neurologischen) Abteilung der Wiener Poliklinik. Ich verlasse gerade das eine Krankenzimmer und strebe dem anderen zu – da nähert sich mir eine junge Krankenschwester und bittet mich im Namen ihres Chefs (von der Kieferchirurgie) um ein sogenanntes Gastbett auf meiner Abteilung – für einen frisch operierten Patienten. Ich sage zu, sie entfernt sich mit einem dankbaren Lächeln, und dann wende ich mich meinem Assistenten zu und frage ihn: ‚Haben Sie diese Augen gesehen …?‘ 1947 wurde sie meine Frau. Eleonore Katharina, geborene Schwindt.“ (Frankl 1995, 107)

Nach der Rückkehr aus dem Konzentrationslager diktierte sich Frankl das Buch „Ein Psycholog erlebt das KZ“ in nur neun Tagen förmlich von der Seele. Angeschlossen wurde noch das feinfühlige und philosophische Theaterstück „Synchronisation in Birkenwald“, welches Frankls Empfinden und Denken über das Unbegreifliche seiner erlittenen Tragik und jener von unzähligen Menschen ähnlichen Schicksals im Rahmen einer „Metaphysischen Conférence“ wiedergibt. Er diktierte dieses Stück in neun Stunden, in einem Guss. Wesentlich ist für Frankl die Frage, wie Schicksalshaftigkeit und eigene Gestaltung letztlich das Leben jedes einzelnen Menschen verantworten können (Frankl 1987, 153). Je nach Zählweise sind von Viktor Frankl circa 32 Bücher erschienen, 6 Bücher hat er selbst in amerikanischem Englisch geschrieben bzw. korrigiert.15 Das wichtigste Werk aus wissenschaftlicher Sicht ist die „Ärztliche Seelsorge“16, vor dem Zweiten Weltkrieg begonnen, in Theresienstadt erweitert, in Auschwitz verschollen und 1946 erschienen, nachdem Frankl eine bei seinem Freund Paul Polak in Wien verbliebene Kopie des Originalmanuskripts wiederbekam. Kleine Notizen zu diesem Werk konnte Frankl im Konzentrationslager auf Zettelchen machen, die er zu seinem 40. Geburtstag von Kameraden geschenkt bekam, welche diese unter Lebensgefahr aus der Lagerkanzlei stehlen konnten. Selbst hochgradig untergewichtig, unter dem Fieber des Flecktyphus vom Tode bedroht notierte Frankl wesentliche Passagen und nützte dadurch letzte Reserven seiner Motivation, um zu überleben. Das nannte er die Fähigkeit zur „Selbsttranszendenz“17 und zur „Selbstdistanzierung“18, wesentliche therapeutische Elemente der EALT.

Frankl unternahm bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder Vortragsreisen, die ihn letztlich mehrfach um die ganze Welt führten, vor allem etwa 100-mal in die USA. 1954 wurde er nach Buenos Aires eingeladen, seine erste Reise außerhalb Europas. Anschließend flog er nach New York City und wurde von Norman Vincent Peale zu Vorträgen eingeladen. Der berühmte Harvard-Psychologe Gordon Allport wurde mit seiner Anregung, das Buch über die Konzentrationslagererfahrungen zu übersetzen, zu jenem Menschen, der Frankl in die US-amerikanische Welt der Wissenschaft einführte und ihm zu einer rasch wachsenden Popularität über die Grenzen des Kontinents hinaus verhalf.

In den Jahren nach dem Krieg hielt Frankl unzählige Vorträge über Logotherapie und Existenzanalyse. Zunehmend verwendete er den Begriff „Logotherapie“, vor allem im Ausland. Umgekehrt legte er in wissenschaftlichen Diskursen und Publikationen höchsten Wert auf die Beibehaltung des Begriffs „Existenzanalyse“.

Frankl war zweifellos immer der Schüler von Sigmund Freud und Alfred Adler und hat seine Wurzeln immer ernst genommen. In Abb. 1 findet man die Entwicklungsgeschichte der EALT in Kurzform. Ausgehend von Freud und Adler entwickelte Frankl den Begriff „Wille zum Sinn“ und meinte damit nicht, dass der Mensch Sinn unbedingt „will“, sondern eine innere, phänomenologisch dem Menschen innewohnende Tendenz, ja Sehnsucht, ein sinnvolles Leben zu führen.

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Abb. 1

Frankl führte dazu den Begriff der „noetischen Dimension“, des Nous ein (Abb. 2).

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Abb. 2

Die Entwicklung der EALT

Frankls Popularität wuchs international sehr schnell, während Österreich ihn mit der Anerkennung seiner Leistungen und seines Werkes bis in die 90er-Jahre warten ließ. Die ab 1988 erstmals wirklich ehrliche und kritische Auseinandersetzung Österreichs mit der historischen Dimension des Nationalsozialismus brachte auch eine neue Beachtung des Juden und Holocaustüberlebenden mit sich. Frankl, dem zu den beiden „eigenen“ Doktoraten in Medizin und Philosophie 29 Ehrendoktorate verliehen wurden, war schließlich Träger der höchsten Auszeichnungen, die die Republik Österreich vergeben konnte.

Nach der Pensionierung 1970 verbrachte Frankl über 10 Jahre lang jeweils den Winter in San Diego, Kalifornien, um an der Universität zu unterrichten. Dort machte er im Alter von 67 Jahren einen Pilotenschein und genoss mit seiner Frau die Flüge über Kalifornien bis zur mexikanischen Grenze. Joseph Fabry19, ein enger Vertrauter Frankls in Kalifornien, wusste über Frankls Leidenschaft für das Fliegen und Klettern Bescheid. „Da er während seines Aufenthaltes in San Diego keine Gelegenheit zum Klettern hatte, begann er, Flugstunden zu nehmen. Er hatte das Bedürfnis, die Höhe zu spüren, wenn schon nicht in den geliebten Bergen, dann wenigstens in den Lüften.“ (Fabry/Lukas 1995, 75) Frankl war schon als Student Kletterer und als junger Arzt geprüfter Bergführer gewesen. Das Klettern war für ihn die Leidenschaft, welche ihm einen kontemplativen Ausgleich zum sonst unermüdlich aktiven Leben ermöglichte.

Seine Richtung der Psychotherapie wurde im Gegensatz zur Tiefenpsychologie auch Höhenpsychologie genannt, da Frankl in der Sinnorientierung die Grundlage des modernen Motivationskonzeptes sah. Der Mensch als ein Wesen, das immer Ziele vor Augen hat, Möglichkeiten, die auf die Verwirklichung warten.

Am 2. September 1997 stirbt Viktor Frankl im Wiener Allgemeinen Krankenhaus an den Folgen einer Herzoperation. Kurz vor der Operation sagte er zu Eleonore, genannt Elly, dass sie später etwas in der Wohnung finden werde, das für sie bestimmt sei. Er bedankte sich noch bei seiner Frau, mit der er mehr als ein halbes Jahrhundert alles geteilt hatte, die ihm 1947 die gemeinsame Tochter Gabriele geschenkt hatte und zeitlebens seine engste Vertraute war, und verabschiedete sich auf diese Weise.

Jahre später fand Elly beim Abstauben der Bücher in Frankls Bücherregal die Erstausgabe des Buches „Homo patiens“ (Der leidende Mensch) aus dem Jahre 1950. Dieses Buch enthält die schlichte Widmung „Elly“. Um den gedruckten Namen herum hatte Frankl mit dem für ihn typischen schwarzen Filzstift20 in feiner, etwas unregelmäßiger Schrift geschrieben: „Für ELLY, der es gelungen ist, den seinerzeitigen ‚homo patiens‘ in einen homo amans zu verwandeln. Viktor.“21 (persönliche Mitteilung von Elly Frankl, 1999)

Es ist sicherlich nicht übertrieben zu sagen, dass es den Menschen Viktor Frankl, der sein Leben der Menschheit auf der Suche nach Sinn gewidmet hat, ohne Elly nicht gegeben hätte. In seinem 1978 erschienenen Buch „The Unheard Cry for Meaning“ schreibt Frankl in seiner Danksagung:

„A special word of gratitude to my wife, Eleonore Katharina, whom I thank for all the sacrifices she has made throughout the years for the sake of helping me to help others.

Indeed, she merits the words that Professor Jacob Needleman once inscribed in a book of his, that he dedicated to her on one of my lecture tours, which I had made, as I always do, in her company. ‚To the warmth‘, he wrote, ‚That accompanies the light.‘

May the warmth long persist when the light has dimmed away. Viktor E. Frankl.“ (Frankl 1985, 7)

Ellys Leistung ist unbeschreiblich. Ein Leben bestehend aus Arbeit von frühester Kindheit an bis zum heutigen Tage, im 98. Lebensjahr. Elly „schrieb“ nicht nur fast alle Bücher Frankls, indem sie unermüdlich seine Diktate tippte und korrigierte, sondern kümmerte sich auch um die Erziehung der Tochter Gabriele (nach Frankls Vater Gabriel benannt) und um den gesamten Haushalt. Zudem half sie unzähligen Menschen, befreite sie von Selbstmordgedanken und milderte die manchmal etwas strengen Anordnungen des Arztes Viktor Frankl beim kurzen Gespräch der Verabschiedung im Vorzimmer wieder ab.

Frankl war unendlich geduldig, wenn er sah, dass ein Mensch krank war und litt. Er hatte jedoch keine Freude daran, seine Energie und die ohnehin so knappe Zeit für Menschen zu verwenden, die mit den Möglichkeiten ihres Lebens gleichsam leichtfertig und spielerisch umgingen, hatte er doch die tiefsten Abgründe menschlichen Handelns durchlebt und fast seine gesamte Familie verloren.22

Die Biografie Viktor Frankls wurde hier bewusst nur in Fragmenten skizziert. Auf ausführliche Literatur zu seinem Leben und Wirken wird im Anhang hingewiesen.23 Ebenso findet sich dort eine Zeittafel mit den wesentlichsten Stationen seines Lebens. Es wurde versucht, in diesem Kapitel Querverbindungen zu beleuchten, die mit aussagekräftigen Zitaten eine Wesensschau über Person und Werk, über die Entstehungsgeschichte der EALT ergeben. Die Unvollständigkeit ist der inhaltlichen Kürze geschuldet und durch fortführende Literatur für interessierte LeserInnen leicht auszugleichen.

1Alfred Adler (1870–1937), Augenarzt und Allgemeinmediziner in Wien, Schüler von Sigmund Freud und Begründer der Individualpsychologie. Lehrer und Förderer von Viktor Frankl.

2Sozialmedizinisches Zentrum Baumgartner Höhe – Otto-Wagner-Spital, früher als „Psychiatrisches Krankenhaus an den Steinhofgründen“ bezeichnet, im Volksmund „Der Steinhof“.

3Alfried Längle (geb. 1951), PD Dr. med. Dr. phil., Psychotherapeut, Arzt, klinischer Psychologe, 1. Präsident der GLE und Präsident der GLE-I (Internationale Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse). 1982–1990 in naher Zusammenarbeit mit Viktor Frankl.

4Existenzanalyse.

5Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse, Wien.

6Im Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete 10, S. 33–45.

7Erlass, Dekret.

8„Ein Psycholog erlebt das KZ“ erschien 1946. Später wurde der Titel mit Zeilen des „Buchenwaldliedes“ gebildet:„… trotzdem Ja zum Leben sagen“ und 1959 wurde das Buch auf Betreiben des Harvard-Psychologen Gordon Allport in den Vereinigten Staaten publiziert, zuerst unter dem irreführenden Titel „From Death Camp to Existentialism – A Psychiatrist’s Path to a new Therapy“. Dadurch verbreitete sich der Irrtum, Frankl hätte seine EALT erst im KZ und wegen seiner KZ-Erfahrungen geschaffen. Der mittlerweile weltweit bekannte Titel „Man’s Search for Meaning“ wurde wenige Jahre nach der amerikanischen Erstausgabe gewählt und hat Viktor Frankl zu einem Bekanntheitsgrad, der sich auch nach seinem Tode weiter steigert, verholfen.

9Eleonore Katharina, geborene Schwindt (1925), seit 1946 die Frau an der Seite Viktor Frankls.

10Der Club of Rome, gegründet 1968, setzt sich für die nachhaltige Zukunft der Menschheit ein.

11Vortrag Frankls in Innsbruck, 1947 als Buch „Der seelisch kranke Mensch vor der Frage nach dem Sinn des Daseins“ erschienen.

12Persönliche Mitteilung von Elly Frankl am 30. Januar 2020.

13Bruno Pittermann, 1905–1983, Sozialdemokrat und späterer Vizekanzler Österreichs.

14Rothschildspital (1940–1942), Wiener Allgemeine Poliklinik (1946–1970).

15„Man’s Search for Meaning“, „The Doctor and the Soul“, „The Unheard Cry for Meaning“,„Psychotherapy and Existentialism“,„The Unconscious God“ und „The Will to Meaning“.

16„Ärztliche Seelsorge, Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse“ erschien am 25. März 1946 bei Deuticke in Wien.

17Selbsttranszendenz: Über sich selbst hinauslangen, sich übersehen können und ganz an einer anderen Person oder an einer Sache, Aufgabe interessiert sein. Hingabe an etwas oder jemanden, der man nicht selbst ist.

18Selbstdistanzierung: Die spezifisch menschliche Fähigkeit über sich selbst nachdenken, reflektieren zu können, sich selbst vor dem inneren Auge betrachten oder über sich lachen zu können (Humor als wesentliches Existenzial und Mittel zur Selbstdistanzierung).

19Joseph B. Fabry, 1909–1999, österreichischer Schriftsteller und Herausgeber der Kalifornischen Universitätszeitschrift, als Jude aus Nazi-Deutschland in die USA geflohen, ab 1965 Wegbegleiter Frankls und Logotherapeut (Existenzanalytiker).

20Frankl litt im Alter an einer Makuladegeneration und erblindete an einem Auge. Das zweite Auge verschlechterte sich langsamer und Frankl erblindete nie völlig, sondern konnte bis zum Ende seines Lebens alle wesentlichen Bereiche autonom bewältigen. In den letzten Lebensjahren war das Lesen immer weniger möglich, weshalb Elly ihm stundenlang Literatur und Korrespondenz vorlas.

21„Homo patiens“ = der leidende Mensch, „homo amans“ = der liebende Mensch.

22Bis auf seine jüngere Schwester Stella, die den Holocaust in Australien überlebte und dort ihre zweite Heimat fand.

23Besonders erwähnenswert: Frankl 1995 und Klingberg 2002.

2 Grundriss der Existenzanalyse und Logotherapie – Anthropologie

Das Menschenbild bei Frankl

Zehn Thesen über die Person (1950)

Die zehn Thesen Viktor Frankls über die Person stehen am Beginn dieses Kapitels zur Anthropologie. Sie weisen in prägnanter Form auf Grundlagen des Menschenbildes der EALT hin und mögen als Struktur dienen.

„1. Die Person ist ein Individuum: die Person ist etwas Unteilbares

2.Die Person ist nicht nur in-dividuum, sondern auch in-summabile: Die Person ist unverschmelzbar mit anderen Personen

3.Jede einzelne Person ist ein absolutes Novum

4.Die Person ist geistig: sie steht im fakultativen Gegensatz zum psychophysischen Organismus.

5.Die Person ist existentiell: sie ist ein entscheidendes Wesen (Jaspers)

6.Die Person ist ichhaft: sie steht nicht unter dem Diktat des ES (Freud)

7.Die Person ist nicht nur Einheit und Ganzheit, sondern die Person stiftet auch Einheit und Ganzheit: sie stiftet die leiblich-seelisch-geistige Einheit und Ganzheit, die das Wesen „Mensch“ darstellt.

8.Die Person ist dynamisch: eben dadurch, daß sie sich vom Psychophysikum zu distanzieren vermag, tritt das Geistige überhaupt erst in Erscheinung

9.Das Tier ist schon deshalb keine Person, weil es sich nicht über sich selbst stellen, sich gegenüberzustellen imstande ist.

10.Die Person begreift sich nicht anders denn von der Transzendenz her. […] Den Anruf der Transzendenz hörte der Mensch ab im Gewissen (Sinnorgan).“

(Frankl 1996, 108–118)

In Anlehnung an Frankls Buchkapitel „Grundriß der Existenzanalyse und Logotherapie“ (Frankl et al., 1959) sowie seine Ausführungen im Buch „Ärztliche Seelsorge“ (1946/1998) werden in diesem Kapitel die Grundlagen der EALT, wie sie Frankl geschaffen hat, dargestellt. Moderne Sichtweisen finden sich in diese Darstellung eingebunden.

Da es mittlerweile mehrere und teilweise durchaus unterschiedliche wissenschaftliche Auffassungen über die Entwicklung der EALT gibt, möge der Hinweis erlaubt sein, dass es sich in diesem Büchlein um eine durch den Autor selbst „gefilterte“ Beschreibung handelt, die keinen Anspruch auf die alleinige Wahrheit stellt.24

Für Frankl war es immer wichtig, dass die von ihm geschaffene Richtung der Psychotherapie – auch wenn es manchmal sperrig zu sprechen ist – einen Doppelnamen trägt, wie zwei Seiten einer Münze: Existenzanalyse und Logotherapie.

Es gibt von Frankl in unterschiedlichen Publikationen immer wieder voneinander abweichende Definitionen der EALT. So wird die Existenzanalyse von ihm lange als eine anthropologische Forschungsrichtung dargestellt und die Logotherapie als die psychotherapeutische Behandlungsmethode. Dies führte vor allem bei der GLE (Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse) in den späten 1980er-Jahren unter Alfried Längle zu einer vom Autor persönlich sehr intensiv erlebten Diskussion und Kontroverse. Es ging vor allem um die Frage, ob und in welchem Ausmaß Selbsterfahrung für die Ausbildung zum/zur PsychotherapeutIn notwendig wäre. In Österreich bereitete man sich zu dieser Zeit auf die erstmalige Schaffung eines Psychotherapiegesetzes25 vor, was eine genaue wissenschaftliche Prüfung und Positionierung der Psychotherapieschulen notwendig machte. Vereinfacht gesagt, sah der renommierte Psychotherapiebegründer Viktor Frankl, damals im 85. Lebensjahr, keine Veranlassung, dass er es nach all der weltweiten Anerkennung der EALT in höchsten wissenschaftlichen Kreisen (z.B. Harvard und Stanford) nötig hätte, seine Lehre einer Prüfung zu unterziehen. Gesetze haben jedoch ihre eigene Dynamik und verlangen meist Schritte, die man als redundant empfinden könnte. Alfried Längle, damals Vorsitzender der GLE und von ca. 1982 bis 1990 quasi die rechte Hand Frankls (in Österreich), erkannte wohl die Zeichen der Zeit und trieb eine Diskussion um die Weiterentwicklung der EALT voran, vor allem um den neu entstehenden gesetzlichen Vorschriften zu deren Anerkennung als psychotherapeutische Schule zu entsprechen und damit Frankls Lehre auch in Österreich offiziell zu erhalten. Das Thema der Selbsterfahrung, welche aus der modernen Psychotherapieausbildung nicht wegzudenken ist, war dabei im Vordergrund der sachlichen Auseinandersetzung. Man muss verstehen, dass Frankl seine EALT ursprünglich als reine Ergänzung der ärztlichen Kunst auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie gedacht hatte.

1990 zog sich Frankl von der GLE zurück. Aus Sicht des Autors lag der Grund Frankls dafür nicht so sehr in der wissenschaftlichen Diskussion, sondern vielmehr in der unglücklichen Art und Weise, wie Alfried Längle und die GLE damals mit dem betagten und weltweit höchst renommierten Wissenschaftler Frankl kommunizierten. Frankl selbst war in dieser speziellen Thematik, die sich auch mit der vom neuen Gesetz geforderten Selbsterfahrung auseinandersetzte, wahrscheinlich kein leichter Gesprächspartner. Er war einer der letzten Alleingänger, monolithischen Begründer einer psychotherapeutischen Schule und nahm dank seines wachen Geistes bis zum Ende seines Lebens mit großem Interesse und aktiv an wissenschaftlichen Diskussionen teil.

Aus moderner Perspektive hat Längle der EALT einen großen Dienst erwiesen. Dass er später die Existenzanalyse im wissenschaftlichen Anspruch als Psychotherapie modernen Stils betrachtete und weiterentwickelte, war natürlich. Die Logtherapie sieht Längle als eine Beratungsform, die den „Sinn im Leben“ als zentralen Fokus trägt.

„Die Entwicklung der heutigen EA [Existenzanalyse] fand durch die zunehmend phänomenologische Haltung und die weitere anthropologische Forschung ab dem Ende der 1980er-Jahre statt. Dadurch ergab sich eine grundlegende Revision der Motivationslehre und des Existenzverständnisses der damaligen Logotherapie. Die Praxis und ihre phänomenologische Untersuchung zeigten auf, dass die monistische, allein auf Sinnsuche ausgerichtete Grundmotivation der Logotherapie (‚Wille zum Sinn‘) so nicht mehr bestehen konnte, sondern dass ihr drei weitere Grundmotivationen26 vorausgehen, die mit der Persönlichkeitsentwicklung und der Selbstentfaltung auf Engste verwoben sind.“ (Längle 2016, 31)

Alfried Längle schuf den Begriff der „personalen Existenzanalyse“ und verwendet gegenwärtig den Terminus „Existenzanalyse“ als Bezeichnung für die von ihm und seinen MitarbeiterInnen weiterentwickelte „Franklsche“, also ursprüngliche Existenzanalyse. Wie Viktor Frankl dem Autor wiederholt mitteilte, störte ihn an diesem Vorgehen am ehesten, dass Längle es nicht für nötig hielt, seiner „neuen“ Entwicklung auch einen wirklich eigenständigen Namen zu geben.

Von einer anderen wichtigen Schülerin Viktor Frankls, Elisabeth Lukas, gingen jene Entwicklungen aus, die sich überwiegend dem Begriff der „Logotherapie“ verpflichtet sehen. KritikerInnen sehen darin – mittlerweile wohl zu Unrecht – eine gewisse Orthodoxie, die sich zu sehr an die Worte Frankls klammert. Aus Sicht des Autors wird die „Wahrheit“, also die wissenschaftlich relevante Umgangsweise mit den und die praktische Anwendbarkeit der Grundlagen der EALT, irgendwo in der Mitte liegen.

Es scheint empfehlenswert eine klare Urheberschaft und Unterscheidung in der Psychotherapiewissenschaft zum Ausdruck zu bringen:

1.Das originäre Werk des Begründers der EALT: Es ist wegweisend und erhellend für eine gute Psychotherapieausbildung, die Originalwerke Frankls zu kennen. Viktor Frankl war Arzt, Philosoph, Psychologe und ein begnadeter Beherrscher von Sprache und Schrift in einer feingeschliffenen Form, die man selten findet.

2.Das ursprüngliche Werk Frankls erweitert um moderne Erkenntnisse.

3.Die klare Definition von Weiterentwicklungen und gegebenenfalls unverwechselbare Bezeichnung derselben mit eigenständigen Namen und Begriffen.

4.Die Einbettung der genannten Punkte in die praktische Anwendung einer gegenwärtigen und modernen Psychotherapie – man könnte hier von einer „Synoptischen Psychotherapie“ (Bilek/Mori 2015)27 sprechen.

5.Unerlässlich ist auch die Einbeziehung moderner Forschungen über das Gehirn (brain imaging) und anderer medizinischer Erkenntnisse (z.B. Genforschung) in die Gesamtbetrachtung menschlichen Daseins unter dem Gesichtspunkt der Psychotherapiewissenschaft. Vor allem die konkrete Umsetzbarkeit der Theorie in eine wirksame und nachhaltig effektive praktische Anwendung wird allen ernstzunehmenden WissenschaftlerInnen das höchste Ziel sein müssen. Geht es doch letztlich und wahrlich darum, den PatientInnen in Best Practice so gut wie möglich helfen zu können.

In der Grundlegung seiner Lehre schreibt Frankl:

„Was zunächst die Logotherapie anlangt, ist dieses Wort nicht von da herzuleiten, daß man im Rahmen dieser Behandlungsmethode etwa ‚dem Patienten mit der Logik kommt‘ – dies hieße die Logotherapie mit der Persuasionsmethode28 verwechseln […]. In ‚Logotherapie‘ meint ‚Logos‘ vielmehr zweierlei: einmal den Sinn – und zum anderen Mal das Geistige, und zwar in zumindest heuristischem Gegensatz zum bloß Seelischen.“ (Frankl 1959, 663)

An diesem Text wird deutlich, wie schwierig es ist, überhaupt passende Begriffe für das Verständnis der Theorie zu finden. Während der Körper (Soma) eine klare Größe darstellt, ist es schon schwieriger Psyche, Geist und Seele zu unterscheiden.

Aus dem historischen Kontext heraus sprach man lange von „seelischen“ Erkrankungen, die dem alten Begriff des „Irreseins“ gleichgesetzt waren. Am Beginn des 20. Jahrhunderts verstand man unter „Psyche“ eher eine Art „Apparat“ für Denkfunktionen. Die Frage, wo denn nun die Emotionen zu finden seien, machte es nicht einfacher. Ist das die Seele? Oder ist die Seele das „Wesen“ des Menschen? Und was ist dann der „Geist“? Eine noch schwierigere Frage. Der Autor bittet um Verständnis, dass für dieses Buch Definitionen angeboten werden, die einerseits am ehesten die Intention Frankls und andererseits die Bedeutung für eine moderne EALT zum Ausdruck bringen.

Als „Psyche“ kann in der EALT gewissermaßen die Hirnleistung, die Erkenntnisfähigkeit, der Verstand, die emotionale Berührbarkeit auf einer einfachen Ebene verstanden werden. Die „Seele“ wäre hierbei dem Ausdruck „Psyche“ gleichzusetzen, wenngleich „Seele“ vielleicht am ehesten eine ganzheitliche Sicht der Person an sich anstreben könnte. Immerhin nannte Frankl sein Hauptwerk „Ärztliche Seelsorge“. Ein Jahrhundert vor ihm, 1845, hatte einer der ersten Psychiater in Wien, Ernst Freiherr von Feuchtersleben, in seinem „Lehrbuch der ärztlichen Seelenkunde“ für seine Studenten dargelegt: „Er [der Zweck der Vorlesungen] ist nämlich: Seelenärzte zu bilden. Nicht nur für den eigentlichen Psychiater in den Irrenanstalten29 ist eine solche Bildung nöthig; es wäre überflüssig, zu entwickeln, dass jedem Arzte die Beziehungen des körperlichen zum Seelenleben deutlich seyn sollten […]. (v. Feuchtersleben 1845, 2)

Frankl hat, aus seiner Nähe zu den Existenzphilosophen heraus, den Begriff des „Geistes“ bzw. der „geistigen Person“ gewählt, um das für ihn tiefste und unzerstörbare Wesen des Menschen zum Ausdruck zu bringen. Geist ist also nicht gleichzusetzen mit Verstand. Geist meint die „geistige Person“, jene Dimension im Menschen, die ihn zur Liebe und zum Glauben, zur Trauer und zur Hoffnung und zu einem, wie Frankl es nannte, „Willen zum Sinn“ überhaupt erst befähigt.

Frankl entwickelte schon in jungen Jahren ein Menschenbild, das später als Anthropologie der EALT die wesentliche Basis für die Einordnung des Menschen in die Welt, ja in den Kosmos, ermöglichen sollte. Seine Haltung führte die PatientInnen aus der reduktionistischen Betrachtung, sie wären „nichts als Kranke“, heraus und eröffnete für die lange Zeit stigmatisierten psychisch Kranken einen Weg zur humanistischen, heute würden wir sagen: wertschätzenden und ethisch hochstehenden Haltung. Frankl forderte diese Menschen beachtende und die geistige Person würdigende Haltung zeitlebens mit größtem Engagement unermüdlich ein.

Eugenio Fizzotti30, ein Salesianer Pater, Psychologe und begnadeter Kenner der EALT, war über Jahrzehnte ein geschätzter und geliebter Schützling des Ehepaars Frankl. Er schrieb über das Menschenbild des jungen Frankl: „Vor allem bestätigten sich einige Intuitionen, die er in den vorausgegangenen Jahren gehabt hatte. So schöpfte er aus den medizinischen Studien und philosophischen Schriften Max Schelers, Karl Japers’, Ludwig Binswangers, Martin Heideggers und Martin Bubers.“ (Frankl 2005, 11) Fizzotti führt in gewählter Sprache vor Augen, worum es dem aufstrebenden Mediziner und Arzt Viktor Frankl letztendlich ging, wenn er sich mit leidenden Menschen, mit teils unheilbar Kranken oder Sterbenden und nach einem Sinn im Leben ringenden Menschen beschäftigte: „Dabei gewann er die Überzeugung, daß es unverzichtbar sei, den Akzent auf die menschliche Person zu legen, gedacht als einmalig, einzigartig, unwiederholbar, als körperlichseelisch-geistige Einheit, ausgerichtet auf die Entdeckung des Sinns der eigenen Existenz und auf die Verwirklichung der je eigenen Lebensaufgabe.“ (Frankl 2005, 11–12)

Wofür nun der Begriff „Existenzanalyse“ steht, hängt sehr mit dem historischen Kontext zusammen. Zudem scheint es für eine Betrachtung und Verwendung dieses von Frankl erschaffenen Begriffs ratsam, sich auf die ursprüngliche Intention zu berufen, die Frankl damit im Sinn hatte. Er schreibt im Handbuch der Neuroselehre und Psychotherapie 1959:

„[…] [W]ir haben in der Existenzanalyse bzw. der Logotherapie diesen Ausdruck für jenen Inhalt [die Eigenart des Menschseins] entlehnt. Bei alledem ist die Existenzanalyse eigentlich keine Analyse der Existenz; denn eine Analyse der Existenz gibt es ebensowenig, wie es eine Synthese der Existenz gibt. Vielmehr ist die Existenzanalyse Explikation der Existenz. […] [Die Person] expliziert sich, sie entfaltet sich, sie rollt sich auf, und zwar im ablaufenden Leben. Wie ein aufgerollter Teppich sein unverwechselbares Muster enthüllt, so lesen wir am Lebenslauf, am Werden, das Wesen der Person ab.“ (Frankl 1959, 663–664)

Hier ist herauszulesen, worum es Frankl im Wesentlichen geht, wenn man die EALT anwenden möchte: darum, dass jeder Mensch eine Person31 ist, ein Mensch durchdrungen von einem Klang, einer Lebensmelodie, die nur die seine ist, also eine einzigartige. Kein Mensch ist verschmelzbar mit einem anderen, niemand kann vervielfacht werden, auch nicht Zwillinge oder geklonte Menschen. Zudem hat das Leben Augenblickscharakter. Kein Moment, kein Tag, keine Zeit kommt je wieder. Das ganze Leben ist der Vergänglichkeit unterworfen, in jeder Sekunde, und doch kann es gelingen, wie die EALT zu vermitteln versucht, durch bewusste und vor allem selbstbewusste Lebensgestaltung ein erfüllendes und sinnvolles Leben zu führen. Dies bezeichnete Frankl als die Einmaligkeit im Leben. Kein Moment ist austauschbar, ersetzbar; auch wenn sich manches im Leben wiederholt, ist es doch jedes Mal ein wenig anders, neu. Der Psychiater Harry Merl32 (2006) hat dafür den Begriff der „Erstmaligkeit“ geprägt, die jeden Moment im Leben zu einem besonderen Moment werden lässt. Nach Merl ist die Frage nach dem Sinn nicht nur für die einzelne Person wichtig, sondern auch für jene Menschen, mit denen wir in Verbindung stehen. Wenn es dem Umfeld gut geht, geht es auch dem Individuum gut und umgekehrt.

Nachfolgend seien noch die fünf Aspekte erwähnt, welche der EALT zugrunde liegen:

1.Existenzanalyse als Explikation personaler Existenz

Details

Seiten
168
ISBN (ePUB)
9783991117698
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Oktober)
Schlagworte
Harald Mori Viktor E. Frankl Frankl Existenzanalyse und Logotherapie Praxis Psychotherapie Menschenbild

Autor

  • Harald Mori (Autor:in)

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Titel: Existenzanalyse und Logotherapie