Lade Inhalt...

Transkulturelle Pflege

Kulturspezifische Faktoren erkennen – verstehen – integrieren

von Ulrike Lenthe (Autor:in)
200 Seiten

In Kürze verfügbar

Zusammenfassung

Oft kommen Pflegepersonen und Pflegebedürftige aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen, der Pflegealltag ist multikulturell geprägt. Sprachbarrieren und die Unkenntnis fremder Kulturen können zu Missverständnissen führen, die den Pflegeerfolg ernsthaft gefährden.
Dieses Buch vermittelt Kenntnisse über kulturspezifische Orientierungssysteme. Es zeigt, warum Fremde anders empfinden, urteilen oder handeln und wie Pflegepersonen sie in ihrer kulturell geprägten Lebenswelt als Persönlichkeit wahrnehmen und ihnen mit Wertschätzung begegnen können. Mit gebündeltem Hintergrundwissen aus Kulturwissenschaft, Religionsgeschichte, Sozialanthropologie, Migrationsforschung und Politikwissenschaft beantwortet dieses Buch Fragen, an denen heute niemand mehr vorbeigehen kann, der an interkultureller Zusammenarbeit interessiert ist.
Für Pflege- und Gesundheitsberufe, Pflege- und Betreuungsinstitutionen und alle, die im Pflegealltag mit fremdsprachigen Klient:innen in Kontakt kommen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1 Transkulturelle Pflege: Eine Herausforderung des 21. Jahrhunderts

Die Ausbreitung der Globalisierung, verbunden mit einer zunehmend komplexen internationalen Medienverflechtung, hat den laufenden Prozess einer vielschichtigen, andauernden Grenzüberschreitung beschleunigt. Diese permanenten Grenzüberschreitungen auf zahlreichen Ebenen haben längst den Lebensalltag jeder Einzelnen erfasst und verlangen die integrative Fähigkeit, ihr Leben in mehreren Welten gleichzeitig zu führen. Vor diesem Hintergrund sind auch die Pflegepersonen gefordert, die relevanten neuen Perspektiven dieser Entwicklung zu erkennen, zu definieren und zu verwirklichen.

Insbesondere die starken Migrationsbewegungen in und nach Europa sowie die zunehmende Realität der medizinischen Versorgung von Klientinnen über die Grenzen hinweg erfordern von den Pflegepersonen sowohl eine entsprechende Wahrnehmung als auch die Fähigkeit, die damit verbundenen kulturellen Veränderungen in ihr Berufskonzept miteinzubeziehen.

Der Arbeitsalltag vieler Pflegepersonen ist bereits multikulturell geprägt, da sowohl Klientinnen als auch Pflegepersonen vielfach aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen stammen. Pflegepersonen stehen dabei unterschiedlichen Gruppen von ausländischen Klientinnen gegenüber: Geschäftsreisenden oder Touristinnen, die während eines Österreich-Aufenthaltes erkranken oder verunglücken; Personen, die aus medizinischen Gründen eingereist sind, weil sie hier bessere medizinische Versorgungsstandards erwarten als in ihrem Heimatland oder weil dort für bestimmte Behandlungsmethoden lange Wartezeiten bestehen; freilich auch den im Lande lebenden Migrantinnen, die zweifellos die größte Gruppe darstellen; und nicht zuletzt den seit 2015 ins Land gekommenen Flüchtlingen, die unsere Sprache kaum bis gar nicht verstehen, denen unsere Werte und Normen großteils fremd sind und die sich in ähnlichen Kontexten völlig unterschiedlich verhalten. Die Gesamtheit der ausländischen Klientinnen ist somit in keiner Weise als homogen zu betrachten. Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die Pflege?

Das größte Problem bilden wohl nicht so sehr die sprachlichen Grenzen des Verstehens, da sie bei Bedarf von einer Dolmetscherin überbrückt werden können. Weitaus schwieriger ist es, einander zu verstehen, wenn unterschiedliche kulturell geprägte Konzepte, Einstellungen und Lebensanschauungen vorliegen, die sich als entscheidende Faktoren für eine erfolgreiche Pflege erweisen können. Diese Herausforderungen und ihre Lösungsansätze werden in den folgenden Kapiteln ausführlich dargestellt. Einige von ihnen sollen hier kurz aufgezeigt werden.

So etwa, wenn Familienstrukturen, Rollenverständnisse innerhalb der Familie bzw. in der Gesellschaft oder der Stellenwert der Frau nicht unserer Mentalität bzw. unserem kulturellen Muster entsprechen; oder wenn eine Frau keine selbstständigen Entscheidungen trifft bzw. in Anwesenheit von Fremden nicht spricht oder gegenüber fremden Männern bestimmte Dinge nicht anspricht. Diese Frauen deshalb generell als unterdrückte Geschöpfe zu bezeichnen, ist absolut entwürdigend. Wie ich selbst in Ländern mit angeblich extremer Frauenunterdrückung erlebt habe, sind gerade jene Frauen oft selbstbewusster, stolzer und stärker als so manche westliche, vorgeblich emanzipierte Frau.

Weitere Herausforderungen liegen z. B. in der Berücksichtigung von religiös bedingten Speisegeboten oder Berührungstabus und vor allem auch in der Tatsache, dass Migrantinnen, die aufgrund von Kriegen, aus politisch-sozialen Gründen oder wirtschaftlicher Not ihre Heimat verlassen mussten, mitunter posttraumatische Belastungsstörungen aufweisen. Wenngleich der Traumatisierung mit der Migration ein Ende gesetzt wurde, müssen die posttraumatischen Folgen aufgearbeitet werden. Dabei stellt es eine besondere Herausforderung dar, wenn die Klientinnen psychosomatische Krankheitsursachen negieren, weil psychische Krankheiten im Herkunftsland Stigmatisierung oder Schande für die Familie bedeuten.

Viele Pflegepersonen wissen auch davon zu berichten, dass ihnen ausländische Klientinnen misstrauisch gegenüberstehen, da sie mit professioneller Pflege nichts anzufangen wissen. Sie können deren Sinn und die vielen damit verbundenen Fragen nicht nachvollziehen und empfinden all das als Eindringen in ihre Privatsphäre.

Etliche Klientinnen sind wiederum nicht bereit, aktiv an ihrer gesundheitlichen Wiederherstellung mitzuarbeiten, da ihrem Verständnis von Pflege die passive Krankenrolle entspricht.

Aber auch andersartige Konzepte über Schmerz- oder Schamerleben zählen zu den für uns völlig fremden Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen von Klientinnen aus anderen Kulturen, mit denen Pflegepersonen konfrontiert sind.

Insgesamt besteht die große Herausforderung der transkulturellen Pflege in der Fähigkeit, die Bedürfnisse unterschiedlicher kultureller Gruppen und Personen zu erkennen, zu verstehen und angemessen auf sie zu reagieren, um sie in geeigneter Weise in die Pflege zu integrieren und dadurch Menschen mit anderen kulturellen, religiösen und ethnischen Hintergründen eine effiziente und effektive Pflege bereitstellen zu können.

Das bedeutet auch für die Gesundheits- und Krankenpflege eine Neuorientierung und den Dialog mit anderen Kulturen. Der Ansatz dazu liegt im Verständnis und in der Akzeptanz dieser Kulturen. Und dafür ist kulturspezifisches Wissen erforderlich.

Im Bewusstsein der Unterschiedlichkeit von Menschen und Kulturen sind es die Konzepte der gegenseitigen Achtung, Anerkennung und Interaktion, die lösungsorientierte Perspektiven für die Herausforderungen unserer Zeit bieten.

Jeder Mensch ist einzigartig und unverwechselbar und geprägt von seinem soziokulturellen Kontext. Dieser Vielfalt von Identitäten begegnen wir tagtäglich in unserem unmittelbaren Umfeld und noch offensichtlicher in Begegnungen mit Menschen aus fremden Kulturen. Der US-amerikanische Anthropologe und Soziologe Clyde Kluckhohn hat diese Vielfalt in einem schönen Satz zum Ausdruck gebracht: „Every man is in certain respects like all other men, like some other men, like no other man.“ (Kluckhohn/Murray 1953, S. 53) „Jeder Mensch ist in gewisser Hinsicht wie alle anderen Menschen, wie einige andere Menschen, wie kein anderer Mensch.“ (Übersetzung d. Verf.)

1.1 Zum Begriff der transkulturellen Pflege

Das für die Begriffsbedeutung von „transkulturell“ maßgebliche lateinische Verhältniswort trans meint „über (etwas) hinweg, bzw. jenseits (von etwas)“ (vgl. Heinichen 1881, S. 888). Somit kommt die Bezeichnung „transkulturell“ in gewisser Weise den aktuellen Verhältnissen entgegen, die sich sowohl durch starke Globalisierungsströmungen als auch durch Individualisierungstendenzen charakterisieren ließen.

Mit den Definitionen der neusprachlichen Begrifflichkeiten „multikulturell“, „interkulturell“ und „transkulturell“ will ich eine Hilfestellung anbieten, um „transkulturelle Pflege“ in den entsprechenden semantischen Bedeutungsrahmen und sprachlichen Beziehungsrahmen setzen zu können. Alle drei Begriffe schließen die Begegnungen von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen mit ein.

Das Adjektiv „multikulturell“ bezeichnet einen Zustand: Multikulturalität liegt dann vor, wenn in einer Gesellschaft verschiedene, unterschiedlich definierbare Kulturen eigenständig nebeneinander (oder auch miteinander) bestehen. In der Pflege dient die Bezeichnung „multikulturelles Team“ üblicherweise dazu, ein Team von Pflegepersonen mit unterschiedlichen kulturellen Wurzeln zu bezeichnen.

Das Adjektiv „interkulturell“ kennzeichnet die dialoggesteuerte, anwendungsorientierte Methode einer sachkundigen Berücksichtigung kulturspezifischer Verschiedenartigkeiten. Diese Bedeutung ist durch das lateinische Verhältniswort „inter“ im Sinne von „zwischen, innerhalb; auch: untereinander“ begründet. Interkulturalität ist somit das Ergebnis eines durch Kommunikation und Interaktion herbeigeführten Austauschs einzelner Elemente zwischen zwei oder mehreren Kulturen, wobei aber jede der beteiligten Kulturen ihre kennzeichnende Identität behält. Interkulturell zu handeln bezeichnet auch die beabsichtigte, auf kulturellen Austausch angelegte Interaktion zwischen Personen aus unterschiedlichen Kulturen.

Das Adjektiv „transkulturell“ beinhaltet eine kulturspezifische Qualifikation: Transkulturalität bezeichnet die erworbene und auf Wissen begründete universale Fähigkeit, die Besonderheiten anderer Kulturen als solche wahrzunehmen, sie im Kulturvergleich als gleichwertig zu erkennen und, ohne die eigene Kultur dabei hintanzustellen, in jeder Kultur adäquat, empathischdialogisch und integrativ handlungsfähig zu sein.

Pflege ist vor allem dann und von sich aus transkulturell, wenn sie sich an den existenziellen Bedürfnissen des Menschen orientiert. Denn diese Bedürfnisse sind für alle Menschen aller Zeiten und aller Kulturen dieselben. Bloß ihre Reihung, Gewichtung und Bedeutung wird aufgrund kulturbedingter Auffassungen oft unterschiedlich sein. So mag zwar eine Buddhistin den Tod nicht fürchten, da sie in ihm den Durchgang in eine neue, womöglich bessere Wiedergeburt sieht; dennoch wird sie pflegerisch-therapeutische Maßnahmen zur Erhaltung ihres Lebens in der Regel nicht zurückweisen.

Sinngemäß formulieren auch Uzarewicz/Piechota (1997, S. 7): „Transkulturelle Pflege bezieht sich auf das Kulturgrenzen Überschreitende, das grundlegend Gemeinsame, das Wesentliche von Pflege, nicht zuletzt um festzustellen, was Pflege (erkenntnistheoretisch) eigentlich ist.“

Transkulturelle Pflege ist demnach kulturübergreifend und bedeutet Pflege über die Grenzen von kultureller Verschiedenartigkeit hinweg: somit Pflege an sich, als die reine Idee in ihrer kulturunabhängigen Form. Transkulturelle Pflege kann daher als ein allgemeingültiges ideelles Prinzip verstanden werden.

1.2 Die Anfänge der transkulturellen Pflege

Es ist wohl kein Zufall, dass die Idee der transkulturellen Pflege gerade in den USA entstand und die meisten Theorien bzw. Modelle der transkulturellen Pflege von amerikanischen Pflegewissenschaftlerinnen entwickelt worden sind. Denn seit Bestehen der Vereinigten Staaten von Amerika ist deren Gesellschaft wie in keinem anderen Staat dieser Erde durchgehend multiethnisch und multikulturell geprägt. Somit waren multikulturelle Anforderungen an die Pflege in den USA bereits evident, bevor sie in Europa erkennbar wurden.

Vor diesem Hintergrund besitzen gerade amerikanische Pflegewissenschaftlerinnen eine sehr hohe Kompetenz für die Entwicklung von transkulturellen Konzepten, Theorien und Modellen. Die amerikanische Pflegewissenschaftlerin Dr. Madeleine M. Leininger war die Erste, die Pflege in einen kulturellen Rahmen gestellt hat und damit zur Begründerin der transkulturellen Pflege geworden ist.

Madeleine M. Leininger wurde im Jahre 1925 in Sutton (US-Bundesstaat Nebraska) geboren. Ihre Ausbildung zur Krankenschwester, die sie 1948 mit dem Diplom abschloss, absolvierte sie an der St. Anthony’s School of Nursing in Denver. Im Jahre 1950 erhielt sie am Benediktiner-College in Atchison (Kansas) den Bachelor of Biological Science. Danach eröffnete sie als Pflegedirektorin am St. Joseph’s Krankenhaus in Omaha (Nebraska) eine psychiatrische Abteilung. Während dieser Zeit setzte sie ihre pflegewissenschaftlichen Studien fort, die sie 1954 an der Katholischen Universität von Amerika in Washington DC mit dem Magister der Pflegewissenschaft (Schwerpunkt psychiatrische Pflege) abschloss. Anschließend wurde Leininger Professorin für Pflegewissenschaft und Leiterin des ersten Studienganges für psychiatrische Pflege an der Universität von Cincinnati.

In dieser Zeit schrieb sie als Co-Autorin mit Charles K. Hofling und Elizabeth Bregg eines der ersten Lehrbücher für psychiatrische Pflege, „Basic Psychiatric Concepts in Nursing“, das in elf Sprachen übersetzt worden ist. Gleichzeitig arbeitete sie mit geistig behinderten Kindern, die aus verschiedenen kulturellen Milieus der USA stammten.

Dabei stellte Leininger fest, dass Kinder mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund auch unterschiedliche Erwartungen an die Pflegepersonen richteten. Sie schreibt dazu (1998, S. 35):

„In gewisser Weise erlitt ich damals einen Kulturschock und fühlte mich ziemlich hilflos im Umgang mit Kindern, die eindeutig verschiedene kulturbezogene Verhaltensmuster und Erwartungen in Bezug auf Fürsorge zeigten.“ Obwohl die Kinder ihre Wünsche und Bedürfnisse nachdrücklich äußerten, war Leininger (1998, S. 35) unfähig, darauf angemessen zu reagieren:

„Ich verstand einfach ihr Verhalten nicht. Später lernte ich, daß dieses Verhalten von ihrer Kultur bestimmt war und daß dieses ihre psychische Gesundheit beeinflußte.“

Der Wunsch nach mehr Wissen über diese die Pflege beeinflussenden kulturellen Faktoren veranlasste Leininger, Anthropologie zu studieren. Dabei erkannte sie, wie wichtig die Anthropologie für die professionelle Pflege ist, wie sehr beide Disziplinen zusammenhängen und welche Bedeutung sie für eine transkulturelle Pflege haben. 1965 promovierte sie als erste Krankenschwester an der Universität von Washington in Anthropologie und wurde 1966 als Professorin für Pflegewissenschaft und Anthropologie an die Universität von Colorado berufen, wo sie die ersten Seminare in transkultureller Pflege abhielt.

Ihre Erkenntnis, dass Anthropologie und Pflege unauflösbar miteinander verbunden sind, veranlasste Leininger, ihre Theorie der transkulturellen Pflege zu entwickeln und das erste Buch zum Thema transkulturelle Pflege zu schreiben, das im Jahre 1970 unter dem Titel „Nursing and Anthropology: Two Worlds to Blend“ erschien. Im Jahre 1974 gründete Leininger die „Transcultural Nursing Society“ und 1978 folgte dann ihr Grundlagenwerk „Transcultural Nursing: Concepts, Theories and Practices“. Mit diesem Buch legte Leininger den Grundstein für die Entwicklung der transkulturellen Pflege.

Ab 1981 wirkte Leininger als Professorin für Pflegewissenschaft und Direktorin des Center for Health Research an der Wayne State University in Detroit. In den nahezu 40 Jahren ihrer Forschungsaktivität untersuchte sie gemeinsam mit Studentinnen und Kolleginnen – auf der Grundlage ihrer Theorie der kulturspezifischen Fürsorge und unter Anwendung ethnografischer und ethnopflegerischer Methoden – an die 60 verschiedene Kulturen auf deren Wertvorstellungen, Überzeugungen, Ausdrucksweisen, Muster und Erfahrungen. Dabei arbeitete sie fast 200 Fürsorgekonstrukte mit speziellen Bedeutungen, Verwendungen und Interpretationen heraus. Nach Leininger (1991, S. 71) erfordert ihre Forschungsmethode, dass man längere Zeit mit der betreffenden Bevölkerungsgruppe zusammenlebt, um dadurch vom Fremden zum Freund zu werden, dem Informationen anvertraut werden.

Über ihre Forschungen hat Leininger an die 25 Bücher publiziert. Ihr abschließendes großes Grundlagenwerk über transkulturelle Pflege, „Culture Care Diversity and Universality: A Theory of Nursing“, ist 1991 erschienen.

Bis zu ihrem Tod im Jahr 2012 in Omaha (US-Bundesstaat Nebraska) war Leininger eine der profiliertesten Autorinnen zum Thema Pflege und die weltweit führende Expertin auf dem Gebiet der transkulturellen Pflege. Es war ihr Lebenswerk, die Qualität von kulturell kongruenter, kompetenter und angemessener Pflege zu steigern und somit weltweit zur Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen beizutragen. Zugleich war es ihr ein Anliegen, Pflegepersonen und andere Fachkräfte des Gesundheitswesens mit dem nötigen Grundwissen auszustatten, um kulturelle Kompetenz in Praxis, Ausbildung, Forschung und Verwaltung sicherzustellen.

Neben Leiningers Forschungen wurden in den USA noch andere Studien durchgeführt und auch andere Modelle für den Bereich der transkulturellen Pflege vorgeschlagen, wie etwa von Larry D. Purnell, Betty J. Paulanka, Joyce N. Giger, Ruth E. Davidhizar, Josepha Campinha-Bacote, Margaret M. Andrews, Joyceen S. Boyle, Rachel E. Spector, Modesta Soberano Orque und einigen anderen. Es ist wohl kein Zufall, dass etliche dieser amerikanischen Pflegewissenschaftlerinnen ethnischen Minderheiten angehören. Sie alle haben auf Leiningers Erkenntnissen aufgebaut und ihrer Theorie neue Dimensionen eröffnet. Andere wieder benützen Leiningers Theorie oder bestimmte Konzepte daraus, um diese theoretischen Vorgaben in einer speziellen Anwendungspraxis umzusetzen.

2 Was ist Kultur?

Das Wort Kultur zählt zu den Begriffen, die in der Gesellschaft sowie in den Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaften am häufigsten gebraucht werden. Dennoch bleibt der Kulturbegriff im alltäglichen Sprachgebrauch meist ohne fest umrissene Bestimmung.

Im Alltag wird das Wort Kultur in derart unterschiedlichen Bedeutungen und Zusammenhängen verwendet, dass es zu einer ausgeprägten Bedeutungserweiterung bis hin zur Sinnentleerung gekommen ist. Kultur ist zu einem idiomatischen Bestandteil zahlreicher Komposita geworden, wie Alltagskultur, Diskussionskultur, Esskultur, Fußballkultur, Hochkultur, Rockkultur, Sprachkultur, daneben gibt es etliche weitere Zusammensetzungen wie Kulturinstitution, Kulturlandschaften, Kulturerbe, Kulturtechniken, Kulturministerium etc.

Das Wort Kultur ist in unserem Leben nahezu allgegenwärtig: wir verreisen, weil wir uns für Kulturen anderer Länder interessieren; in der Tageszeitung lesen wir die Kulturbeilage; im Werbefernsehen wird uns ein neues Joghurt mit probiotischen Kulturen schmackhaft gemacht; wir besuchen eine Veranstaltung im Rahmen der Kulturwochen; wir sind entsetzt über die Gesprächskultur bei politischen Debatten; wir achten auf die Esskultur unserer Kinder; wir schätzen die Sprachkultur unserer Gesprächspartnerinnen; wir pflegen einen kultivierten Umgang miteinander.

Die Verwendung des Begriffes erfolgt dabei keineswegs einheitlich, sondern ist vieldeutig und variiert je nach Benutzerin und Kontext.

Wer von Kultur spricht, kann einmal Kultur als Hochkultur meinen. Man schließt dabei eine kennzeichnende und durch die Elemente der Hochkultur bewirkte Veredelung der Sitten mit ein, im Besonderen durch Religion, Philosophie, Bildung, Wissenschaften und Künste wie Literatur, Musik, Schauspiel, Architektur, Malerei, Bildhauerei usw.

Ein anderes Mal kann mit Kultur eine auf Bildung oder Erziehung beruhende besondere Lebensart gemeint sein, somit Kultur als Lebensstil. Menschen, denen Lebenskultur wichtig ist, zeichnen sich durch Bildung, Humanität, Geschmack, Manieren und geistige Interessen aus.

Als fremde Kulturen werden Sitten, Religion und Bräuche fremder Völker bezeichnet. Fremde Kulturen zeigen sich als Verhaltensweisen, sozusagen als way of life bestimmter Gruppen von Menschen, die sich nach territorialen, ethnischen, ideologischen, mentalen und sprachlichen Kriterien als Einheit bestimmen lassen.

Aber auch Natur und Kultur stehen in begrifflichem Zusammenhang. So kommt der Kulturbegriff etwa in der Landwirtschaft (z. B. Gartenkultur, Monokultur), in der Geografie (z. B. Kulturlandschaft) oder in der Medizin (z. B. Bakterienkultur) sprachlich zum Ausdruck.

Nach ursprünglichem Verständnis werden unter Kultur die bekannten Äußerungen des Menschen wie Sprache, Glaubensvorstellungen, Kunst und Wissenschaft, Lebensgewohnheiten und Umweltgestaltung zusammengefasst. Jede einzelne Kulturgestaltung ist das Produkt einer langen historischen Entwicklung und ist mehr gewachsen als ausgedacht (vgl. Keyserling 1913, S. 29). Kultur bedeutet somit nach Brockhaus (1975, 3. Bd., S. 278) „die Gesamtheit der typischen Lebensformen größerer Gruppen, einschließlich ihrer geistigen Aktivitäten, besonders der Werteinstellungen“.

2.1 Zum Kulturbegriff im Wandel der Zeiten

Betrachtet man den Begriff Kultur im Verlauf der Geschichte, so lässt sich feststellen, dass die Menschen verschiedener Zeitepochen jeweils ihre eigenen Sichtweisen und Wahrheiten darüber entwickelt haben, was unter Kultur zu verstehen sei.

Details

Seiten
200
ISBN (ePUB)
9783991117735
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Januar)
Schlagworte
Lenthe Pflege Transkulturelle Pflege Kultur Religion Ethik Christentum Islam Hinduismus Buddhismus Konfuzianismus Judentum Migration Kommunikation Shmerz Familie Sprache Modelle Kompetenz

Autor

  • Ulrike Lenthe (Autor:in)

Zurück

Titel: Transkulturelle Pflege