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Delir

Berichte von Betroffenen

von Renate Hadi (Autor:in)
160 Seiten

In Kürze verfügbar

Zusammenfassung

Mehr als fünfzig Menschen berichten in diesem Buch über ihr durchlebtes Delir. Ihre berührenden, verstörenden und irrationalen Erlebnisse zeigen auf, wie vielfältig sich dieses äußern kann. Die Autorin beschreibt anhand einiger Berichte exemplarisch, wie Betroffene im klinischen Alltag mit einer empathischen und kreativen Herangehensweise fachlich begleitet werden können. Ergänzende Fachbeiträge von Delir-Expert:innen runden das Buch ab.

Für Pflegende, Mediziner:innen, Physio- und Ergotherapeut:innen bzw. alle in Gesundheitsberufen tätige Personen, pflegende Angehörige sowie Menschen, die selbst ein Delir erlebt haben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Half Title
  • Titel Seite
  • Impressum
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Geleitwort
  • Einleitende Worte
  • Teil I: Erwachsene
  • 1 Delir – ein häufiges Syndrom
  • 2 Fallbesprechungen
  • Johanna, 73 Jahre
  • Otto, 94 Jahre
  • Katarzyna, 97 Jahre
  • Robert, 54 Jahre
  • Andreas, 48 Jahre
  • 3 Berichte von Betroffenen
  • Annemarie, 80 Jahre
  • Claudia, 57 Jahre
  • Danuta, 49 Jahre
  • Eduard, 76 Jahre
  • Elisabeth, 58 Jahre
  • Ernst, 81 Jahre
  • Ferdinand, 73 Jahre
  • Filipp, 48 Jahre
  • Franz, 81 Jahre
  • Friderike, 70 Jahre
  • Gerhard, 76 Jahre
  • Günter, 66 Jahre
  • Heidelinde, 73 Jahre
  • Heinrich, 79 Jahre
  • Helmut, 76 Jahre
  • Hubert, 87 Jahre
  • Irmgard, 94 Jahre
  • Jennifer, 33 Jahre
  • Johanna, 73 Jahre
  • Julian, 32 Jahre
  • Katarzyna, 97 Jahre
  • Klaus, 77 Jahre
  • Leopold, 75 Jahre
  • Lothar, 77 Jahre
  • Ludwig, 79 Jahre
  • Maria, 87 Jahre
  • Maximilian, 77 Jahre
  • Michael, 48 Jahre
  • Nadja, 18 Jahre
  • Oskar, 50 Jahre
  • Otto, 94 Jahre
  • Peter, 62 Jahre
  • Regina, 59 Jahre
  • Reinhard, 77 Jahre
  • Richard, 78 Jahre
  • Robert, 54 Jahre
  • Rupert, 79 Jahre
  • Sabine, 73 Jahre
  • Santiago, 21 Jahre
  • Sieghard, 72 Jahre
  • Silvi, 74 Jahre
  • Theresa, 78 Jahre
  • Walter, 76 Jahre
  • Wolfgang, 61 Jahre
  • Xaver, 85 Jahre
  • Teil II: Kinder
  • 4 Delir – was hat das mit Kindern zu tun?
  • 5 Delir bei Neugeborenen und Säuglingen
  • 6 Berichte von und über Betroffene(n)
  • Benjamin, 17 Jahre
  • Eliah, 13 Jahre
  • Fabian, 7 Jahre
  • Felix, 9 Wochen
  • Finn, 5 Monate
  • Kerstin, 12 Jahre
  • Lina, 4 Jahre
  • Vladimir, 2 Jahre
  • Mäx, 10 Jahre
  • Rückseite

Vorwort

Gelebte Erfahrungen – welch andere Wahrheit kann es geben?

Ich liege, stundenlang, links und rechts von mir graue Plastikteile, es ist wie in einem Sarg … ich bin eingesperrt … Menschen kommen vorbei, Gesichter beugen sich über mich, die ungewohnte Perspektive verzerrt sie, sie werden groß, bedrohlich, es sind immer wieder andere … ich kann keinen Menschen fassen, alles ist unvertraut … die Decke, an die ich immer starre … schwarze Punkte auf weißem Untergrund, oder ist es etwas anderes? Sie beginnen zu flimmern, sich zu bewegen, auf mich zu? Was ist das? Ich höre Stimmen, sehe aber keinen Menschen, woher kommen die Stimmen? Ich höre Geräusche, die ich nicht einordnen kann, sie sind unheimlich, kommen sie auf mich zu? Ich sehe Schatten, neben meinem Bett, vor meinem Gesicht, es ist alles so fremd, so bedrohlich, ich bin alleine, was passiert mit mir? Ich habe Angst … jemand hält mich fest, ich schreie, schreie… aber niemand hilft mir …

Ist dies die Wahrheit? Wessen Wahrheit? Kann man es verstehen? Muss man verstehen? Muss man es wissen, um gute, effektive Pflege leisten zu können? Reicht es nicht, sich um objektive Daten zu bemühen? Ist das nicht wichtiger?

Pflege begründet sich weniger in einer naturwissenschaftlichen Perspektive – auch wenn man dies vielleicht auf den ersten Blick glauben mag – und mehr in einer humanwissenschaftlichen.

Humanwissenschaften charakterisieren sich durch ein Verständnis des Menschen als Ganzes, als Einheit. Sie befassen sich mit den Bedeutungen und Erfahrungen des und der Einzelnen, damit, wie jene gesehen und erlebt werden. Pflege kann deswegen als Humanwissenschaft bezeichnet werden, da sie sich mit den Lebenserfahrungen der Menschen, mit Fragen der Gesundheit und Krankheit und ihrer Bedeutung im Leben sowie mit der Erfahrung des Sterbens befasst und damit, wie diese Perspektiven die Handlungen und Reaktionen von Menschen prägen.

Gelebte Erfahrungen sind daher eine unverzichtbare Wissensquelle – für Praxis, Lehre und Forschung gleichermaßen. Denn nur so kann es uns annähernd gelingen, Zugang zu dem zu finden, worunter die Menschen, die der Pflege anvertraut sind, wirklich leiden. Ohne diesen Zugang können wir nicht verstehen, und wenn wir nicht verstehen, können wir nicht zielgerichtet und wirkungsvoll handeln.

Gelebte Erfahrungen sind keine Störfaktoren, wenn wir nach Wahrheit suchen, sie sind keine subjektiven Berichte, die durch objektive Wahrheiten berichtigt werden müssen, sie sind die Wahrheit der Betroffenen und die Wahrheit, die uns Zugang zum Verstehen einer Krankheit bzw. dem Kranksein schafft. Und nur, wenn wir verstehen, können wir wirklich zielgerichtet handeln. Subjektivität wird so zur wahren „Objektivität“, wenn es um Menschen geht.

Delir ist ein hochkomplexes Geschehen. Man kann zwar ein paar „objektiv beobachtbare“ Parameter festmachen, aber zu dem, was es wirklich ist, bekommen wir nur Zugang über die subjektiven, persönlichen Erfahrungen in ihrer gesamten Vielfalt. Die Lektüre dieses Buches hilft, in diese fremde Welt einzutauchen. Wir können uns diese Gefühle, von denen man nur ahnen kann, wie es ist, sie zu fühlen, nie zu eigen machen, sie nicht wirklich nachvollziehen, aber die Geschichten erzeugen Bilder in uns, die helfen können, dieses Geschehen und vor allem die Reaktionen der Betroffenen besser zu verstehen und vielleicht Zugang zu ihnen zu bekommen. Das vorliegende Buch birgt einen Schatz, den es in dieser Form noch nie gegeben hat – Renate Hadi gebührt hier großer Dank, dass sie über Jahre diese Geschichten gesammelt hat, immer in dem Bewusstsein, dass sie wichtig sind. Die Lektüre dieses Buches legt den Grundstein, um in das Thema Delir eintauchen und sich damit sinnvoll – in Bezug auf Diagnostik, Pflege und Therapie sowie Forschung – weiter beschäftigen zu können. Daher sollte es unbedingt zur Pflichtlektüre für alle im Gesundheitswesen Tätigen werden.

Hanna Mayer

Geleitwort

Delirerzählungen und deren Beitrag zur Veränderung der Gesundheitsversorgung im Sinne der Autonomie

In der Auseinandersetzung mit dem Themenschwerpunkt „beeinträchtigte kognitive Kompetenz“ wurden und werden im Universitätsklinikum AKH Wien Akzente gesetzt, die die Pflege und medizinische Versorgung insbesondere von vulnerablen Personengruppen nachhaltig verändern sollen. Hier wird vorrangig daran gearbeitet, die akute Verwirrtheit, das Delir, zu vermeiden oder zu lindern.

Das kulturhistorische Bild des Delirs – als „Erlkönig“, als „grüne Fee“ und „neben der Spur“ beschrieben – war romantisch verklärt und wurde lange nicht als Bedrohung wahrgenommen. Die Dramatik dieses lebensbedrohlichen Zustandes und die Machtlosigkeit der kurativ denkenden Medizin führte lange Zeit dazu, dass dieser Zustand im Kontext von Schuld und Sühne, von Sucht und Krankheit, als dazugehörig betrachtet wurde. Auf dieses unbeherrschbare Monster, das oftmals nachts ans Fenster klopft und nicht selten mit dem Tod endet, wurde resignativ, gewalttätig oder freiheitsberaubend reagiert, nicht agiert. Erst in jüngster Zeit hat die Medizin Wege gefunden, dieses Phänomen zu fassen. Es wird reduziert auf ein kurzes Wort: Delir.

Dieses Wort beschreibt einen höchst komplexen Sachzusammenhang, dessen Auswirkungen fatal sind. International, in sämtlichen Sprachen, ist die Forschung mit einer uneinheitlichen Nomenklatur konfrontiert, die es den Kliniker*innen erschwert, stringente und praktikable Behandlungswege zu zeichnen. Es wird an Instrumenten, Therapien, Prozessen und Pflegemaßnahmen gefeilt, die so schön sind und so wunderbar davon ablenken, welche Bedürfnisse der Mensch, der Hilfe braucht, eigentlich hat. Dabei wäre es relativ einfach: Zuhören, Bedürfnisse erfassen, Freiräume nutzen, Bezugspersonen inkludieren, kreativ sein! Wenn alle Gesundheitsberufe gemeinsam Lösungen suchen und auch ihre eigenen Bedürfnisse wahrnehmen, dann profitieren alle von dieser Ganzheitlichkeit.

Diese Publikation tut etwas, wofür im betrieblichen Rausch einer Gesundheitseinrichtung oft keine Zeit vorgesehen ist. Sie dokumentiert das Erleben eines Phänomens, das aus der Betroffenenperspektive viel eindrücklicher erzählt wird, als es von Assessmentinstrumenten generierte Zahlen oder Diagnosecodes je könnten. Für die Bewusstseinsarbeit ist dieses Buch daher ein phänomenologischer Schatz, der zur Reflexion, Diskussion und zur weiteren Entwicklung des humanistischen Gesundheitswesens im Sinne eines biopsychosozialen Modells beiträgt.

Renate Hadi, danke für dieses Werk!

Roman Breuer

Einleitende Worte

„Die alte Frau ist doch dement, und der Mann säuft sicher heimlich. Pass auf, die Angehörigen der Dementen wollen das nie wahrhaben, und die Alkoholiker lügen alle!“

Während meiner Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin Anfang der 1980er-Jahre wurde mir weder theoretisches noch praktisches Wissen im Umgang mit deliranten Menschen vermittelt. In meinem Verständnis ging ich davon aus, dass die Entwicklung eines Delirs etwas Zufälliges sei. Damals lauteten die Krankheitsbegriffe „dement“, „Durchgang“, „depressiv“, „Alkoholiker“, „incomplient“ oder schlicht und einfach „verrückt“. Es gab keine etablierte pflegerische oder therapeutische bedürfnisorientierte Begleitung für Menschen, die an Delir erkrankt waren. Im Gegenteil: Es wurde ihre Anpassung an die vorgegebenen strukturellen Abläufe des Krankenhauses erwartet. Neben Bevormundung oder Zurechtweisungen verabreichte man „nicht angepassten“ Patient*innen auch sedierende Medikamente und sie wurden gegebenenfalls mithilfe von Lein- und Dreieckstüchern an ihre Betten oder den Lehnsessel fixiert.

Das Wissen um delirauslösende Ursachen und die Erfahrung, dass durch milieutherapeutische Maßnahmen ein Delir zum großen Teil vermeidbar ist bzw. die Schwere des Verlaufes verringert werden kann, habe ich erst vor etwa zehn Jahren erfahren. In meiner Rolle als Pflegeberaterin im Universitätsklinikum AKH Wien wurde ich auf den unterschiedlichen Stationen häufig gebeten, mich kognitiv auffälliger Patient*innen anzunehmen, die im Hinblick auf den pflegerischen Betreuungsaufwand sehr herausfordernd waren. Durch das Arbeiten mit dieser Patient*innengruppe wurde mir bewusst, dass die Ursache der Verhaltensauffälligkeit häufig ein akuter Verwirrtheitszustand war. Dabei empfand ich es als unterstützend, dass das Krankheitsbild des Delirs in Fachkreisen zugleich zunehmend diskutiert und in Fortbildungen im Gesundheitsbereich aufgenommen wurde.

Um sowohl die Genesung der Betroffenen zu fördern als auch die Belastungen des Behandlungsteams zu reduzieren, ist es zentral, die Betroffenen während ihres Krankheitsprozesses möglichst gut zu begleiten: Was brauchen sie, um die Krankheit physisch wie psychisch gut zu bewältigen? Welche Ressourcen, Unterstützungssysteme (Familie, Freundeskreis etc.) haben sie? Wie sieht es prinzipiell mit ihren kognitiven Reserven aus?

Julian, den ich während seiner deliranten Episode begleiten durfte, wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Er hat – gequält von schrecklichen Halluzinationen – vor Entsetzen und Panik mit weit aufgerissenen Augen nur noch geschrien. Meine erste Intervention war, ihn in Begleitung seiner Frau in ein Einzelzimmer zu verlegen. Sie war die einzige Person, die er noch als Mensch erkannte. Alle anderen waren Teufel oder sonstige grauenhafte Gestalten. In der Folge habe ich gemeinsam mit seiner Frau entlang seiner Biografie Informationen über Erfahrungen gesammelt, die für Julian eine positive emotionale Bedeutung haben konnten: ihre und Julians Liebe und das Parfum, das sie bei ihren ersten Begegnungen getragen hatte, ihre Kinder, die er so sehr liebte, seine Interessen und Hobbys. Aus diesem Wissen heraus ergaben sich neben einer forcierten Mobilisierung die individuellen Maßnahmen. Dadurch war Julian zunehmend in der Lage, sich von seinen Halluzinationen zu distanzieren: „Da drüben, da steht meine Frau, aber der Mann daneben, gell, den gibt’s nicht? Ich sehe etwas, das sehen Sie jetzt wahrscheinlich nicht.“ Julian schaffte es, seine delirante Episode ohne bleibende kognitive Defizite hinter sich zu lassen.

Mit diesem Buch möchte ich denjenigen eine Stimme geben, die sich an ein durchlebtes Delir erinnern können und bereit waren, darüber zu sprechen. Für mich war jede Erzählung in ihrer Einzigartigkeit spannend und berührend – ein Blick in eine für mich bisher unbekannte Welt. Beruflich für mich interessant und relevant waren die unterschiedlichen erfolgreichen, aber auch erfolglosen und teilweise selbst- und fremdschädigenden Bewältigungsstrategien der von einem Delir Betroffenen.

Peters Pflegende erzählten mir, dass er in seinem Zimmer mehrfach gestürzt war. In Peters Wahrnehmung wurde ihm von hochrangigen politischen Persönlichkeiten der Auftrag erteilt, sich auf einem bestimmten Punkt im Zimmer hinzulegen und dort auf die Schwestern zu warten.

Besonders erschreckend erlebte ich die Aussage von Gerhard. Er berichtete mir, dass seine Beine in Flammen standen und er deshalb aus dem 18. Stock habe springen wollen. Wäre es ihm gelungen, das Fenster zu öffnen, wäre sein Tod sicher als Suizid eingestuft worden.

Neben der Angst infolge der Halluzinationen berichteten mir viele Menschen auch von ihrer Angst, verrückt oder dement zu werden. Diese war umso größer, je mehr sie sich dessen bewusst waren, dass ihre Wahrnehmung nicht der Realität entsprechen konnte. Für einige Betroffene war es jedoch schwierig, vom Wahrheitsgehalt ihrer Erlebnisse abzurücken. So beharrte Franz auf der Realität seiner nächtlichen Halluzinationen, wobei er als Beweis anführte: „Zum Schluss kam dann die Polizei und hat sich für meine Aufmerksamkeit bedankt. Weil sie schon nach ihnen [den Asylwerbern aus Syrien; R.H.] gesucht haben.“

Die Erzählungen in diesem Buch wurden von mir zwischen 2015 und 2022 gesammelt. Sie stellen keine repräsentative Übersicht dar, weil der Fokus auf der Freiwilligkeit lag und daher keine bestimmte Zielgruppe definiert wurde. Rund 70 Prozent der von mir angefragten Personen – mehrheitlich Männer – waren bereit, ihre Erlebnisse mit mir zu teilen. Ein Großteil der Betroffenen hat das Delir als verstörend und beschämend, vereinzelt auch als traumatisierend beschrieben.

Die Begründungen jener, die es ablehnten, über das Delir zu sprechen, waren unterschiedlich. Manche hatten keine Erinnerung an ihr Delir, andere wollten ihre Erfahrungen nicht mit mir teilen. Ein Teil der Betroffenen hat sich zu sehr für das Erlebte und das bizarre Verhalten während des Delirs geschämt: „Ich war deppert, ich habe viel angestellt“ oder „Es war so schrecklich, dass ich es Ihnen nicht erzählen mag“ oder „Es war alles eh nur ein Albtraum“.

Leider waren die meisten Menschen mit nichtdeutscher Erstsprache – bis auf wenige Ausnahmen – nicht gesprächsbereit. Eine genaue Analyse der Motive müsste vorgenommen werden. Einige wenige Erzählungen bekam ich von Eltern deliranter Kinder. Dies freut mich besonders, denn das Wissen über die Möglichkeit eines Delirs bei Kindern oder Jugendlichen ist im klinischen Alltag noch nicht angekommen.

Bei der Sammlung der Texte war es mein Wunsch, dass die Betroffenen – wenn möglich auch ihre Bezugspersonen – ihr Erlebtes selbst verschriftlichen. Dies lehnten die meisten aus unterschiedlichen Gründen ab. Sie waren jedoch bereit, mir das Erlebte zu schildern. Ich habe ihnen zugehört und versucht, beim Mitschreiben so nah wie möglich an ihrer gesprochenen Sprache zu bleiben. Die Sitzungen, in deren Zuge ich das Erleben der Betroffenen protokollierte, fanden – je nach deren Bedürfnis – bis zu viermal statt. Man muss davon ausgehen, dass alle Erzählungen lückenhaft sind. Einerseits konnten sich die Betroffenen nicht an alles erinnern, andererseits wollten sie nicht alles erzählen, weil es ihrer Aussage nach zu privat war.

Die Erzählungen sind eingerahmt von Fachbeiträgen, die verfasst wurden von den Delir-Expert*innen Dr. Thomas Frühwald, Dr. Stefan Irschik und Pflegeberaterin Patricia Wallner1, meiner Kollegin. Die Beiträge sollen die subjektive Sicht der Betroffenen um die wissenschaftliche Expertise ergänzen und Auslöser, Disposition, Prävention, Diagnostik, Gefahren, Folgeschäden, die Rolle der Psychopharmaka sowie therapeutische Empfehlungen benennen. Für ihre Bereitschaft, am Buch mitzuwirken, möchte ich mich bei den drei Expert*innen herzlichst bedanken.

Bedanken möchte ich mich auch bei meinen Vorgesetzten Johann Pernegger und Sabine Wolf für die Offenheit dem Thema gegenüber und die Möglichkeit, die Interviews an den Kliniken zu führen. Roman Breuer und Sonja Schneeweiss haben es ermöglicht, dass sich das Thema Delir am AKH Wien zu einem pflegerischen Schwerpunktthema entwickeln konnte.

Abschließend gilt mein besonderer Dank meiner Tochter Sarah sowie Hildegard Hefel, die mich mit ihrem kritischen Feedback sowohl gefordert als auch korrekturlesend unterstützt haben.

Wien, im Frühjahr 2023

Renate Hadi

1 Nennung in alphabetischer Reihenfolge.

Teil I Erwachsene

1 Delir – ein häufiges Syndrom

Thomas Frühwald

Bei einem Delir kommt es zu einer akuten, organisch bedingten Beeinträchtigung von Gehirnfunktionen. Dies führt dazu, dass die betroffene Person auf Umweltreize unangemessen reagiert, „durcheinander“ wirkt und unfähig ist, sich zu orientieren. Sie verliert die Fähigkeit, mit der üblichen Klarheit und Kohärenz zu denken. Es ist die häufigste psychische Störung bei älteren Menschen, vor allem bei der Gruppe der sehr alten Menschen. Fast jede somatische Erkrankung sowie der Einfluss auch „nur“ therapeutischer Dosen von Medikamenten können bei alten Menschen zu diesem Syndrom führen. Es ist viel häufiger das Erstsymptom vieler somatischer Erkrankungen – z.B. Infektionen, Myokardinfarkt, Stoffwechselentgleisungen etc. – als die sonst als klassisch gelehrten Symptome wie Fieber, Schmerz oder Tachykardie.

„Verwirrtheit“ kann Symptom sowohl von Delir als auch von Demenz sein. Ein Delir kann eventuell auch nur phasenweise zu einer Demenz hinzukommen. Demenz ist einer der Risikofaktoren für das Delir. Menschen, die eine Delir-Episode erleben, berichten von einer plötzlichen Änderung der Wahrnehmung der Wirklichkeit und von quälenden Empfindungen und Halluzinationen. Sie fühlen sich hilflos, unfähig, zu kommunizieren, und beschreiben diese Erfahrung als sehr belastend.

Das Delir verlangt besondere Aufmerksamkeit, da es in bis zu zwei Drittel der Fälle von Ärzt*innen und bis zu ca. 40 % der Fälle von Pflegepersonen nicht als solches erkannt wird. Dabei wäre es in fast der Hälfte der Fälle vermeidbar und ist bei rechtzeitiger Diagnose auch gut behandelbar.

Das Risiko, ein Delir zur entwickeln, nimmt mit dem Alter deutlich zu und wird gesteigert durch das gleichzeitige Vorhandensein einer kognitiven Beeinträchtigung. Die Delir-Inzidenz ist beträchtlich: Bis zu 50 % der in einem Akutspital aufgenommenen Patient*innen erleiden es. Postoperativ kommt es bei bis zu 60 % vor. Bei genauem Screening kann es bei 70–90 % der Patient*innen auf Intensivstationen festgestellt werden. Darüber hinaus wird berichtet, dass bis zu 90 % der Menschen in ihrer Sterbephase Delir-Symptome aufweisen. Schon bei der Aufnahme im Krankenhaus könnte es bei ca. 25 % der über 65-jährigen Patient*innen festgestellt werden. In Pflegeheimen sind es je nach Durchschnittsalter und Aufnahmeselektion zwischen 40 % und 80 % der Bewohner*innen.

Delir und seine Folgen

Die Bedeutung des Delirs resultiert auch aus der Tatsache, dass es oft von zusätzlichen Problemen begleitet wird, welche sowohl die Betroffenen als auch deren betreuendes Umfeld belasten. Dies kann sich in Inkontinenz, Stürzen, unkooperativem Verhalten, Therapie- und Nahrungsablehnung, Weglauftendenz usw. ausdrücken.

Je schwerer und je länger ein Delir (unbehandelt) besteht, desto häufiger und schwerwiegender sind kognitive Folgeschäden. Ein Delir kann grundsätzlich vollständig ausheilen oder aber auch mit einem kognitiven Defektzustand enden. Ein Delir bedeutet ein signifikant höheres Risiko, während der Hospitalisierung Komplikationen zu erleiden, und verlängert die Hospitalisierungsdauer. In der Folge benötigen diese Patient*innen bei einer dauerhaften Verschlechterung der körperlichen und kognitiven Funktionen mehr ambulante oder stationäre Betreuung, z.B. in einem Pflegeheim.

Die Kosten eines Delirs sind bis heute für Österreich nicht valide beziffert. In internationalen Untersuchungen konnten hingegen bereits Erkenntnisse zu den ökonomischen Auswirkungen gesammelt werden: In den USA verursachte die Betreuung von Patient*innen mit Delir deutliche höhere Kosten als diejenige vergleichbarer Patient*innen ohne Delir. In einer Extrapolation wurden für die USA Mehrbelastungen in der Höhe von über 100 Milliarden Euro pro Jahr für das Gesundheitssystem angenommen.

Die Inanspruchnahme des Gesundheits- und Sozialwesens wächst nicht zuletzt durch höheren poststationären Hilfsbedarf. Zwölf Monate nach dem Delir zeigen 41 % der Betroffenen zusätzliche kognitive Defizite, die insbesondere die Aktivitäten des täglichen Lebens beeinträchtigen.

Die Entstehung eines Delirs

Das Delir ist multifaktoriell erklärbar: Meist resultiert es aus der Interaktion mehrerer Prozesse. Es entsteht im Rahmen von akuten somatischen Erkrankungen, durch Wirkungen bzw. Nebenwirkungen von Pharmaka und/oder störenden Umgebungsfaktoren.

Bei der Entstehung eines Delirs spielt das Verhältnis von Prädisposition (Vulnerabilität) und Noxe eine erhebliche Rolle. Ist die Vulnerabilität hoch, reicht eine geringfügige Noxe und umgekehrt.

Zu den individuellen Prädispositionsfaktoren mit hoher Vulnerabilität gehören (in absteigendem Ausmaß):

hohes Alter

kognitive Behinderung (Demenz)

Frailty (Gebrechlichkeit)

Multimorbidität

sensorische Störungen

Anämie

Suchtmittelabusus

Benzodiazepin-Gebrauch

Depression

soziale Isolation

Zu den das Delir auslösenden Noxen gehören (in absteigender Stärke):

ein chirurgischer Eingriff

anticholinerg wirksame Medikamente

psychoaktive Medikamente (auch Antipsychotika, Antidepressiva, Tranquilizer)

ein Aufenthalt auf der Intensivstation

eine akute Infektion

Elektrolytentgleisung, insbesondere Hyponatriämie, Dehydratation

Schlafdeprivation

Immobilisierung

freiheitseinschränkende Maßnahmen

Dauerkatheter

Pathophysiologie

Die wichtigsten Hypothesen betonen die Rolle von Neurotransmittern, Entzündungsmechanismen und chronischem Stress. Die Neurotransmitter Acetylcholin und Dopamin haben eine zentrale Bedeutung für kognitive Funktionen, Vigilanz und Schlaf-Wach-Rhythmus. Eine Reduktion des Hirnmetabolismus durch Hypoxie kann eine reduzierte Synthese von Acetylcholin oder eine vermehrte Freisetzung von Dopamin verursachen und so zur Entstehung eines Delirs beitragen. Altern per se ist ein Prozess, der mit einer geringer werdenden cholinergen Reserve einhergeht.

Auf der Ebene der Neurotransmitter sind das cholinerge Defizit und/ oder ein dopaminerger Überschuss von zentraler Bedeutung. Diese beiden Systeme unterliegen besonders häufig pharmakologischen Einflüssen. Durch „delirogene“ Pharmaka kann es zu einem Ungleichgewicht der Neurotransmitter und zur Störung der synaptischen Kommunikation kommen. Die Neurotransmission wird zusätzlich durch Zytokine und Interferone gestört. Systemische entzündliche Prozesse, aber auch chirurgische Traumata lassen den Zytokinspiegel ansteigen.

Rolle der Pharmaka

Ein wichtiger Faktor für das Auftreten eines Delirs ist das Zusammenspiel zwischen Multimorbidität, Frailty und Polypharmazie. Daher sollten wichtige Prädiktoren für das Auftreten unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) durch potenziell inadäquate Medikation (PIM) gezielt analysiert werden. Medikamente mit delirogenem Potenzial sind prinzipiell alle anticholinerg und dopaminerg wirksamen Medikamente sowie solche, die die anderen oben erwähnten Neurotransmitter beeinflussen.

Das Delir ist klinisch charakterisiert durch

akut beginnende globale, in ihrem zeitlichen Verlauf und in ihrer Intensität fluktuierende Störung kognitiver Funktionen (insbesondere des Gedächtnisses)

desorganisiertes Denken und Desorientiertheit (zeitlich, örtlich, situativ, zur Person)

fragmentierten Gedankenduktus – im Sinne der Verwirrtheit

reduzierte Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu erhalten bzw. zu verlagern

herabgesetztes Bewusstseinsniveau (Vigilanzstörung)

gesteigerte oder reduzierte (!) psychomotorische Aktivität

gestörten Schlaf-Wach-Zyklus

akustische oder optische Halluzinationen, Illusionen, Verkennungen …

kurze Dauer (meist weniger als ein Monat, aber auch längere Verläufe sind bekannt)

Formen des Delirs

Nach der Ausprägung der psychomotorischen Manifestationen unterscheidet man zwei Formen des Delirs. Es kommen aber auch Mischformen vor.

hyperaktives Delir

Ein hyperaktives Delir ist charakterisiert durch psychomotorische Unruhe bis zur Erregung, Agitiertheit, erhöhte Irritabilität, Halluzinationen, Ängste und vegetative Zeichen.

hypoaktives Delir

Das hypoaktive Delir ist bei älteren Patient*innen die häufigere Form. Es wird aber öfter nicht erkannt, wodurch es besonders gefährlich ist. Gekennzeichnet ist es durch Bewegungsarmut, Lethargie, Somnolenz und wenig spontane Kontaktaufnahme. Halluzinationen und Desorientierung werden erst durch Befragen deutlich.

Delir-Diagnose

Die Diagnose eines Delirs ist vorrangig eine klinische. Unumgänglich sind eine genaue Exploration und eine körperliche Untersuchung. Die Fremdanamnese mit Angehörigen oder Pflegepersonal liefert meist die entscheidenden Hinweise, wobei auf den rasch einsetzenden Symptombeginn geachtet werden soll.

Die Diagnose des Delirs wird durch Klärung folgender Fragen erleichtert:

Akuter Beginn der Störung?

Vorhandensein von somatischer Erkrankung, sensorischer Deprivation, neuen oder neu dosierten Medikamenten?

Psychologische Faktoren in der Anamnese wie Isolation, Ortswechsel, Verluste, Trauer, Depression?

Diagnostisch wegweisend sind:

das Unvermögen, Aufmerksamkeit zu fokussieren (die Aufmerksamkeit kann getestet werden, indem man den/die Patient*in bittet, z.B. die Monate beginnend mit Dezember rückwärts aufzuzählen oder das Wort „Radio“ rückwärts zu buchstabieren)

der Verlust der Fähigkeit, mit der üblichen Klarheit und Kohärenz zu denken

die eingeschränkte Wahrnehmung von Umweltreizen sowie inadäquates Reagieren darauf

kognitive Störungen wie Auffassungs- und Gedächtnisstörungen, häufig auffällige situative Desorientiertheit

Delir-Screening- und -Diagnoseinstrumente

Screening- bzw. Assessmentinstrumente unterstützen durch klare Verfahrensanweisungen eine frühzeitige Diagnostik. Im Rahmen der Aufnahme älterer Menschen ins Krankenhaus, aber auch in eine Pflegestruktur, sollte standardisiert ein Delir-Screening, z.B. mit dem validierten Beobachtungsinstrument DOS-Skala (Delirium Observation Scale) oder der Nu-Desc (Nursing Delirium Screening Scale), durchgeführt werden. Für alle identifizierten Delir-Risikopatient*innen sollte ein Delir-Assessment mit validierten Instrumenten wie dem auf den DMS-Kriterien basierten Confusion Assessment Method Fragebogen (CAM oder CAM-ICU) implementiert werden. Eine Schlüsselrolle in Früherkennung und Monitoring des Delirs spielen die Pflegepersonen.

Um abzuklären, welche Ursachen bzw. auslösende Noxen möglicherweise einwirken, ist selbstverständlich eine genaue medizinische Diagnostik erforderlich. Hervorzuheben ist, dass die Diagnostik stufenweise nach klinischer Ausprägung erfolgen sollte und keine „Schrotschuss-Taktik“ praktiziert wird – dies deshalb, weil alle Untersuchungen zur Alteration der Betroffenen führen können, was wiederum die Symptomatik des Delirs verschlechtern kann.

Differenzialdiagnose Delir – Demenz

Es ist besonders wichtig, akute Verwirrtheit und Demenz zu unterscheiden.

Eine/n Patient*in mit Delir falsch als „nur“ dement zu bezeichnen, kann dazu führen, dass behandelbare Zustände verkannt werden. Die wesentlichsten Hinweise auf ein Delir, das zu einer bestehenden Demenz hinzukommt, sind z.B. eine akute Verschlechterung der kognitiven Situation oder das plötzliche Auftreten von bisher nicht beobachteten Verhaltensstörungen. Diesbezüglich ist man auf eine gute Kommunikation mit dem betreuenden Umfeld angewiesen.

Prävention von Delir

Die Delir-Prävention ist interdisziplinär, multiprofessionell und erfolgt durch ein konsequentes Vorgehen, welches Risikofaktoren berücksichtigt sowie Pharmakotherapie und mögliche Dehydration kontrolliert. Dies kann eine Reduktion des Delir-Risikos um bis zu 40 % bewirken.

Empfehlungen zur Prävention

Vermeiden kausaler Faktoren wie unnötige Hospitalisierung und Polypharmazie

rechtzeitiges Erkennen von Prodromalsymptomen wie Nervosität, lebhafte Träume, Schlaflosigkeit, flüchtige Halluzinationen

präoperativ sind Delir-Screening, Assessment für Demenz, Depression, Angsterkrankung, Suchterkrankung (Alkohol, Benzodiazepine), das Erheben von Delir in der Vorgeschichte, geriatrisches Konsil sowie Medikamentenüberprüfung empfehlenswert

perioperativ ist der Stress so gering wie möglich zu halten: reorientieren, Zeit geben für Fragen, optimale Schmerztherapie und Schlafmittel- sowie Nikotin-Anamnese

Falls eine stationäre Aufnahme erforderlich ist, sollte für hochbetagte Menschen von Anfang an eine geriatrische und/oder gerontopsychiatrisch qualifizierte Betreuung ermöglicht werden.

Zum Standard einer guten Betreuung Demenzkranker sollte die Möglichkeit einer ständigen Begleitung der Patient*innen durch deren pflegende Angehörige oder andere nahe Bezugspersonen gehören.

Therapie des Delirs

Es ist wichtig, zunächst an die Primärprävention zu denken, noch bevor dieses komplexe, potenziell lebensgefährliche Problem auftritt. Dazu gehören

Erkennen der Risikopatient*innen

Schaffung adäquater Rahmenbedingungen für die Betreuung dieser Patient*innen – re-orientierende Infrastruktur, validierender Umgang, ruhiges, stressarmes Milieu

Vermeiden kausaler Faktoren, also etwa vorsichtiger Umgang mit anticholinergen Medikamenten (z.B. Antiparkinsonika), insbesondere bei kognitiv bereits kompromittierten Patient*innen, adäquate Ernährung, Flüssigkeitszufuhr, Mobilisierung

rechtzeitiges Erkennen von Prodromalsymptomen wie Schlaflosigkeit, Unruhe, Nervosität, lebhafte Träume, passagäre Halluzinationen

Die Behandlung umfasst drei wesentliche Aspekte:

Es muss die auslösende Erkrankung behandelt und/oder die mitverursachende Situation beseitigt werden, d.h. die kausale Therapie ist unumgänglich, begleitet durch

pflegerische und milieutherapeutische Maßnahmen und

symptomatische medikamentöse Therapie, z.B. Sedierung mit individueller Festlegung eines klar definierten Sedierungsziels, wobei die Sedierung immer wieder evaluiert werden muss.

Cave: Eine isolierte, nur symptomatische Therapie kann durch Maskierung der kausalen Situation den Verlauf fatal beeinflussen!

Die kausale Behandlung kann grob skizziert z.B. wie folgt aussehen:

richtige antibiotische Behandlung eines Infekts

Ausgleich der im Rahmen des fieberhaften Infekts und durch das akute Delir im Sinne eines circulus vitiosus begünstigten Exsikkose und Elektrolytstörung

Reduktion der verordneten Medikamente auf das notwendigste Minimum

Um eine konsequente Diagnostik und Therapie durchführen zu können, ist initial oft eine antipsychotische und/oder sedierende Behandlung nötig. Ideal wäre primär auch eine „soziale Fixierung“, d.h. Präsenz von Angehörigen, „Sitzwachen“ („Sitter“), Ablenkung, Beschäftigung, Mobilisierung. Dies scheitert aber oft an strukturellen, organisatorischen Problemen.

Zur psychopharmakologischen Intervention eignen sich unter strikter Beachtung der Kontraindikationen neben Haloperidol in niedrigen peroralen Dosierungen atypische Antipsychotika. Im Intensivbereich kommt oft Dexmedetomidin (Dexdor) zum Einsatz. Das ist ein selektiver Blocker der Alpha-2-Rezeptoren im Gehirn; er wirkt sympatholytisch, also dämpfend auf die Aktivität des Sympathikus, somit anxiolytisch, Unruhe und Agitiertheit minimierend, Blutdruck und Herzfrequenz senkend. Dexmedetomidin hat auch eine analgetische Wirkung und kann die Menge der benötigten Anästhetika und Analgetika senken. Dieses Medikament bewirkt normalerweise keine tiefe Sedierung, die Patient*innen können schneller extubiert werden.

Die antipsychotische und sedierende Medikation soll ausschließlich als nur vorübergehende symptomatische Maßnahme verstanden werden. Sie soll den Patient*innen den Leidensdruck nehmen und andere Hilfen im Rahmen einer globalen multidisziplinären Betreuung ermöglichen.

Die Psychopharmakotherapie muss ausreichend, darf aber nicht für längere Zeit immobilisierend sein – weshalb man sich unter Beobachtung der Wirkung und Nebenwirkung von ganz niedrigen Dosen an die wirksame Dosis herantitrieren soll.

Benzodiazepine sind in den allermeisten Fällen (außer eventuell beim Alkohol- oder Tranquilizer-Entzugsdelir) ungeeignet. Sie haben in ihrer kurz wirksamen Form lediglich für beschränkte Zeit als Schlafinduktoren einen Stellenwert. Substanzen mit langer Halbwertszeit und aktiven Metaboliten – wie z.B. Diazepam – sind jedenfalls obsolet. Anzumerken ist auch, dass Benzodiazepine selbst „delirogen“ wirken können.

Sobald die kausaltherapeutischen Maßnahmen gegriffen haben, ist eine eventuelle Sedierung zu beenden. Zielsymptome der Psychopharmakotherapie, mangelnde Effizienz nichtpharmakologischer Maßnahmen, Verlaufsbeobachtungen unter der Therapie und allfällige Dosisreduktionsversuche sind zu dokumentieren.

Körpernahe fixierende Maßnahmen (Gurte etc.) sind die schlechteste Methode, um „verwirrte“, psychomotorisch agitierte Patient*innen „ruhigzustellen“. Sie sind inhuman, führen zu noch mehr Unruhe und akuter Verletzungsgefahr und prolongieren das Delir. Deren Gebrauch ist abzulehnen.

Grundlegende pflegerische und milieutherapeutische Maßnahmen:

klare Strukturierung des Tages

private Kleidung

Orientierungshilfen (Uhren, Kalender …)

klare räumliche Struktur

ruhige Atmosphäre (Akustik, Optik …)

Mobilisierung

geputzte Brille, funktionierendes Hörgerät, Zahnprothese …

Toilettentraining

Aktivierung

Validation

Biografiebezug

Information, eventuell Einbeziehung von Angehörigen

Zusammenfassend

Das Delir ist ein häufiges Problem. Es bedeutet insbesondere für den älteren Menschen eine zusätzliche Belastung und Gefahr. Ein Delir kann/muss rechtzeitig erkannt, diagnostiziert und behandelt werden.

Eine genaue Anamnese, Status und gezielte Laboruntersuchungen helfen, die auslösenden Ursachen aufzudecken.

Eine Evaluierung der Medikamente ist obligat. Wenn möglich, sollen das Delir (mit)verursachende Medikamente abgesetzt werden.

Delir-Therapie heißt, die verursachende Erkrankung zu behandeln, das auslösende Medikament abzusetzen, die (mit-)verursachende Situation zu beseitigen; dazu müssen Komplikationen vermieden und belastende Verhaltensstörungen kontrolliert werden.

Die beste Delir-Therapie ist die Prävention.

Wichtiger als Medikation ist die globale Betreuung durch das interdisziplinäre multiprofessionelle Team.

Literatur

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Details

Seiten
160
ISBN (ePUB)
9783991117216
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (April)
Schlagworte
Erfahrungen Renate Hadi Delir Patient Angehörige Berichte delirauslösend Ursachen delirant Fallgeschichten

Autor

  • Renate Hadi (Autor:in)

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Titel: Delir