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Therapie+

Körper im digitalen Raum

von Birgitta Schiller (Herausgeber:in) Eva Wimmer (Herausgeber:in) Stella Becher-Urbaniak (Herausgeber:in)
300 Seiten

In Kürze verfügbar

Zusammenfassung

Dieser Sammelband widmet sich den Ergebnissen der Studie „KörperLOS – Eine qualitative Studie zur Rolle des Körpers in der digitalen psychotherapeutischen Behandlung“, die in Kollaboration der Fakultät für Psychotherapiewissenschaft der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien und der psychotherapeutischen Ambulanz für Erwachsene der SFU durchgeführt wurde.

Die einzelnen Beiträge präsentieren die Ergebnisse der Analyse von qualitativen Interviews mit Therapeut:innen in Ausbildung unter Supervision zu deren Wahrnehmungen und Erfahrungen mit Körper und Körperlichkeit in der Onlinetherapie: Ambivalenzen, Technik, Rituale und Abgrenzung, Raum und Räumlichkeit sowie psychotherapeutische Allianz und Beziehung und die Ethik in Bezug auf den Körper in der digitalen Therapie bilden den Schwerpunkt des Buches. Daneben bietet der Sammelband einen Überblick über die Rahmenbedingungen der Studie und einen Einblick in die psychotherapeutische Ambulanz. Das therapeutische Feld hat sich durch die Integration des Onlineraums während der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie erweitert, die Entwicklungen sind nicht mehr umkehrbar, es entsteht eine „Therapie+“, so die zentrale Erkenntnis.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Schon längst spielt sich das Leben vieler Menschen online ab. Erste Begegnungen finden statt, ganze Beziehungen sind mit der Tastatur verbunden und manche Leben werden ganz transparent und verschmelzen zur Gänze mit dem mystischen Raum. Es ist an der Zeit, dass sich die Psychotherapie dieser Welt stellt. „Stellen“ ist dabei das richtige Wort, war der psychotherapeutische Raum doch so lange vor dieser Neuerung auf der Flucht. Dieser Sammelband möchte sich jedoch nicht nur stellen, sondern widmet das Hauptaugenmerk den Fragen, die geklärt werden müssen, um Psychotherapie in diesen neuen Koordinaten zu verorten. Es muss ein stabiler Boden unter den Füßen von Psychotherapeut*innen gefunden werden.

Die Covid-19-Pandemie schaffte vollendete Tatsachen und die Therapeut*innen und Patient*innen sahen sich einem Ultimatum gegenüber: Entweder sie machen online weiter oder eben nicht. Plötzlich war das für alle denkbar und möglich. Und nicht nur das – Sätze wie „Das ist ja völlig unproblematisch“, „Wie praktisch!“ und „Manche Menschen öffnen sich so leichter“ wurden oft geäußert. Die Menschen in Therapie fanden ihren Weg, aus der Notwendigkeit heraus. In den Beiträgen auf den folgenden Seiten wird die Notwendigkeit überwunden und der Raum von Möglichkeiten wird entdeckt.

Psychotherapie fing beim Körper aus medizinscher Sicht an beziehungsweise beim verzweifelten Versuch, eine organische Ursache für psychische Symptome zu finden. In der Zeit der Jahrhundertwende und davor forschte allen voran der bekannte Pathologe und Neurologe Jean-Martin Charcot in seinem Hôpital de la Salpêtrière in Paris an genau dieser Frage. Sigmund Freud lernte ebenfalls dort und beobachtete die „schönen Hysterien“. Aus diesen Versuchen gewann jedoch niemand Klarheit oder eine befriedigende Antwort auf die Frage der „wandernden Gebärmutter“. Es hieß: „Es kann nur eine jener Läsionen in Betracht kommen, welche sich unseren gegenwärtigen anatomischen Untersuchungsmethoden entziehen, und für die man übereingekommen ist, den Namen ‚dynamische‘ oder funktionelle Läsionen in Ermangelung eines Besseren zu gebrauchen.“ (Charcot, 1886) Damit wurde die große Entdeckung in der Medizin vertagt und die Psychotherapie mit ihren unterschiedlichen Methoden und Theorien durfte entstehen. Schlussendlich waren es die Patient*innen, die den Verzicht auf jegliche „Behandlung“ wünschten.

Die Geschichte und die Entwicklung der Psychotherapie hat durch ihren „libidinösen“ und körperlichen Anfang einen Schreck vor tatsächlicher Körperlichkeit bekommen und gleichzeitig ein starkes Interesse an den Zeichen des Körpers. Außer vielleicht in der Körpertherapie ist es nicht denkbar, dass Patient*innen in der Therapie berührt werden. Mache Therapeut*innen überlassen selbst die Aufforderung zum Händeruck den Patient*innen. Gleichzeitig wird die Qualität dieses Händeschüttelns akribisch beobachtet und dokumentiert. Ist es doch der Körper, der beginnt über Inhalte zu sprechen, die noch nicht gesagt werden können und dürfen. Dazu kommt die eigene körperliche Reaktion der Therapeut*innen, die unter der sehr grellen Lampe der Supervision gedeutet wird. Leichte Übelkeit, plötzliche bleierne Müdigkeit oder flüchtige Wahrnehmungsstörungen werden zum Ausdruck des therapeutischen Prozesses. Damit ist der Körper ein Instrument oder besser ein Empfänger von psychischem Geschehen, das noch nicht verbalisiert ist: durch diese ambivalente Haltung von Psychotherapie zum Körper, die einerseits sehr genau beobachtet und andererseits die Berührung ausschließt.

Jedoch verfügt der therapeutische Raum mit der alten Theorie und dem Wissen, das sich darin versammelt hat, über eine Eigenart, die dem Geschehen auf Leinwänden und Bildschirmen ähnlich ist. Der Raum ist artifiziell erzeugt und soll das therapeutische Geschehen sicher rahmen und die Dynamik vorantreiben. Ein „Tun als ob“ und etwas Spielerisches sind in diesem Raum zu Hause, dort entstehen ganze Welten und vielfältige Realitäten. Letzten Endes werden dort Tag für Tag Geschichten erzählt, um die Seele zu verstehen. Gleichzeitig werden Dinge inszeniert, ausgelebt und wiedererlebt, ähnlich wie im Theater durch Katharsis. Betrachtet man die Bildschirme, die so oft Schauplatz von mitreißenden Computerspielen sind, zentrales Medium von Kommunikation wurden und einen unstillbaren Hunger nach der nächsten Folge einer Serie erzeugen, so ist die Prognose vielversprechend, auch hier eine Möglichkeit für Therapie zu finden. Vielleicht findet sich in der Fiktionsbedürftigkeit der Menschen, wie es Precht ausdrücken würde, der Anfang einer Zuversicht und ein entfernter Verwandtschaftsgrad.

Besprochene Inhalte werden in den Köpfen der Therapeut*innen zu Fantasien. Bilder über Wohnungen, Urlaube, Verwandte und Haustiere formen sich auf therapeutischer Seite durch die gefärbte Wahrnehmung der Patient*innen. Ohne diese Färbung muss die Information erst reflektiert, supervidiert und mühsam in den Prozess integriert werden. Durch die Therapien im körperlosen Raum kommt es immer wieder zu Einblicken in den Alltag der Patient*innen. Ein Vorhang, eine Katze und die Dekoration am Rückspiegel des Autos gewähren unverhohlenen Einblick in den Alltag – ein Zustand, der entzaubernd wirken kann und die Angst vor der Therapie ohne Körper schürt.

Gleichzeitig kann ein Blick aus der Perspektive der Arbeit in der Krisenintervention diese Angst durch das Versprechen von Erreichbarkeit und Niederschwelligkeit verringern. In der Krise, in der die Patient*innen gestützt werden müssen und die therapeutische Hilfe öfter als einmal die Woche zu einer festgelegten Zeit benötigen, ist die Onlinetherapie ein willkommenes Mittel, um zu halten und zu begleiten.

In der komplizierten Beziehung von Therapie und Körper muss es Altlasten geben und die Angst vor dem Verlust oder der neuen Form des Körpers ist vererbt. Dieser Sammelband überwindet diese Tradierung und konzentriert sich auf den Wunsch, Psychotherapie über die Grenzen der Praxis hinweg geschehen zu lassen. Diese offene Herangehensweise wurde in Zusammenarbeit von psychotherapiewissenschaftlicher Fakultät und Lehrambulanz im Rahmen eines wertvollen Projekts untersucht, das sowohl den Nachwuchs fördert und ihm eine Stimme verleiht als auch den Geschehnissen der vergangenen Jahre entspricht.

Wien, im September 2022

Lisa Winter

Therapie+: Körper im digitalen Raum

Stella Becher-Urbaniak, Birgitta Schiller, Eva Wimmer

Weshalb sollten Körper und Körperlichkeit im Onlinesetting untersucht werden? Diese Frage hat sich das Team der Fakultät für Psychotherapieforschung und Psychosomatik der Sigmund Freud PrivatUniversität (SFU) in Kooperation mit dem Forschungsteam der psychotherapeutischen Universitätsambulanz für Erwachsene der SFU gestellt, um Körper und Körperlichkeit im digitalen Setting mithilfe von Erfahrungswerten und Wahrnehmungen der befragten Psychotherapeut*innen in Ausbildung unter Supervision (i. A. u. S.) zu explorieren, welche an der besagten Ambulanz zum Erhebungszeitpunkt tätig waren. Die nonverbale Komponente, der Körper und die Körperlichkeit, werden bei Diskussionen zum Onlinesetting in der Psychotherapie oft vergessen. Sie scheinen zu fehlen, obwohl sie auch im Onlinesetting zentrale Faktoren darstellen, damit eine sinnvolle Therapie und die Arbeit mit Menschen jeglicher Art überhaupt geschehen und funktionieren kann (Inchausti, MacBeth, Hasson-Ohayon, & Dimaggio, 2020; Paiva, 2020).

Durch die wahrgenommene Abwesenheit der gemeinsamen physischen Präsenz tritt diese auch in den Hintergrund, was ein Nährboden sein kann, um den Körper tatsächlich außen vor zu lassen und Abwehrmechanismen zu intensivieren. In den folgenden Beiträgen soll die Wichtigkeit der bewussten Auseinandersetzung mit dem und der Awareness für den Körper kontextuell im digitalen Raum verdeutlicht werden. Das ist signifikant in einem lebendigen, sich stets wandelnden und flüchtigen Zeitalter (liquid modernity, Bauman 2000), um nach wie vor vollständig anwesend sein und dadurch Resonanz herzustellen zu können (Abella, 2018; Bauman, 2000; Kannarkat, Smith, & McLeod-Bryant, 2020; Rosa, 2016).

Psychotherapie war nie nur in einem Praxissetting zu denken; bereits Sigmund Freud pflegte mit einigen Patient*innen Briefverkehr oder ging mit ihnen spazieren (Agosta, 2019; Sayers, 2021). Individualität und die damit einhergehende individuelle psychotherapeutische Betreuung sollten offen sein für die Bedürfnisse der Betroffenen und adäquat an das Zeitalter und die zur Verfügung stehenden Ressourcen angepasst werden. Insofern ist nicht die Art des Settings für die klinische Arbeit entscheidend, sondern auch, wie Professionist*innen damit umgehen und welchen Zugang sie wählen.

Schon Sokrates wehrte sich vehement, seine Gedanken zu verschriftlichen, da in der Umwandlung des Verbalisierten in feste Buchstaben etwas Neues entstehe. Seine Befürchtung, dass vieles, was sprachlich ausgedrückt wird, in Texten verloren geht, ist korrekt. Doch das geschriebene Wort macht zusätzliche Ebenen der Sprache zugänglich, die wiederum dem Gesprochenen fehlen. Durch die Verbreitung von Text wurde vieles ermöglicht, das in einer rein gesprochenen Welt nicht vorstellbar ist (Abella, 2018).

Mitten im Digitalisierungsprozess kann der Schritt zur rein analogen Therapie nicht mehr gegangen werden, jedoch kann darüber diskutiert werden, welches Setting unter welchen Voraussetzungen für erfolgreiche Psychotherapie besser oder schlechter geeignet ist. Die Antwort ist, dass die beiden Formen nicht einfach austauschbar sind, doch eine Weigerung, sich mit den Veränderungsprozessen zu befassen, ist Realitätsabwehr. Die Zeit kann nicht zurückgedreht und es kann nicht dafür oder dagegen entschieden werden. Onlinetherapie wurde über Nacht fixer Bestandteil des therapeutischen Arbeitens. Ob gewollt oder nicht, Therapeut*innen mussten sich durch die Lockdown-Maßnahmen der Covid-19-Pandemie seit dem Jahr 2020 in einem globalen Ausmaß mit Online- und Teletherapie auseinandersetzen. Dieser Initialschritt hat die Grundstrukturen der gesamten therapeutischen Versorgung verändert. Berufsangehörige der Psychotherapie und verwandter Berufe besitzen das große Privileg, individuell arbeiten zu können, und die Möglichkeit, die Tätigkeit an die Klientel und das Zeitalter sowie die zur Verfügung stehenden Ressourcen an die Tätigkeit anzupassen.

Forschung zur Psychotherapie auf Distanz gibt es schon lange, genau genommen seit Beginn der Psychotherapie (Abella, 2018; Agosta, 2019; Sayers, 2021). Die Geister waren geschieden und die Differenzen schienen teilweise unüberwindbar. Die bisherigen Studien befassten sich ausschließlich mit Psychotherapeut*innen, die eine neue Art zusätzlich zum bestehenden Setting „ausprobierten“. Die Ambivalenzen wurden ausdiskutiert, und dennoch blieb eine verhärtete Front stehen, die unauflöslich schien. In vielen Ländern, auch in Österreich, blieb die Onlinetherapie auf dem Status einer Beratungsleistung und durfte nicht als Psychotherapie abgerechnet werden. Daher setzten sich nur wenige Therapeut*innen mit deren Möglichkeiten und Limitierungen auseinander (Haun et al., 2020). Eine weitere Hürde der Weiterentwicklung und psychotherapeutischen Analyse ist sicherlich im Generationenunterschied zu sehen, denn die medialen Neuerungen sind sehr jung.

Aktuelle Studien zur Umstellung im Zeitraum 2020 bis 2021 zeigen, dass die meisten Behandler*innen der Onlinetherapie sehr skeptisch gegenüberstanden und über die Potenziale der psychotherapeutischen Versorgung im Onlinesetting positiv überrascht waren (Beck-Hiestermann, Kästner, & Gumz, 2021; Humer, Stippl, Pieh, Pryss, & Probst, 2020; MacMullin, Jerry, & Cook, 2020; Merchant, 2021; Poltrum, Uhl, & Poltrum, 2020; Pozzi Monzo & Micotti, 2020; Probst, Haid, Schimböck, Stippl, & Humer, 2021; Uhl, Poltrum, & Poltrum, 2020). Nach einem ersten Jubel darüber, dass es so schien, als gäbe es keinen feststellbaren Unterschied in der Qualität der Therapie zwischen den unterschiedlichen Settings, kam jedoch eine Phase, in der von der Forschung genauer hingesehen wurde. Wieder verfing man sich in dem Versuch Onlinetherapie eins zu eins mit der Präsenztherapie zu vergleichen (Békés, Aafjes-van Doorn, Luo, Prout, & Hoffman, 2021; Eichenberg, 2021; Leukhardt, Heider, Reboly, Franzen, & Eichenberg, 2021). Geht man jedoch vom direkten Vergleich der beiden Formen des Settings weg und erkennt die Onlinetherapie als eigenständiges Setting an, ergeben sich Ressourcen und Möglichkeiten, die wiederum im Präsenzsetting nicht gegeben sind (MacMullin et al., 2020; Mitchell, 2020).

Um den Entwicklungen gerecht zu werden, sind auch die Untersuchungsinstrumente und unser gesamter psychotherapeutischer Blick auf die Therapie zu ändern, ansonsten bleibt es bei oberflächlichen Vergleichen wie im Fall von Sprache und Schrift. In Anbetracht dessen ist das Forschungspotenzial also noch lange nicht ausgeschöpft (siehe auch Abella, 2018; Beck-Hiestermann et al., 2021; Cataldo, Chang, Mendoza, & Buchanan, 2021).

Nach dem Abklingen der striktesten Pandemiemaßnahmen konnte auch die klinische Tätigkeit vor Ort in den therapeutischen Praxen wieder aufgenommen werden. Für viele bedeutete diese Rückkehr in die gewohnten Räumlichkeiten eine Erleichterung (Aafjes-van Doorn, Békés, & Prout, 2021; Békés et al., 2021). Doch die psychotherapeutische Landschaft hat sich unwiderruflich verändert (Hanley, 2021; Kannarkat et al., 2020; Leukhardt et al., 2021; Swartz, 2021; Trub, Berler, & Magaldi, 2021). War es vor der Umstellung noch legitim, die Therapie bei einer Verletzung oder einem Umzug zu pausieren oder zu beenden, so besteht nun die Forderung, die Stunde online oder telefonisch abzuhalten. Welche Argumente können aufgebracht werden, um diese Arten der Therapie zu verweigern? Können und sollen die privaten oder sogar intimen Details aus dem Leben der Patient*innen, die während Onlinesessions aufgekommen sind, in den Hintergrund gedrängt werden oder nimmt man das Wissen in das Präsenzsetting mit? Kann die Flexibilität von Terminvereinbarungen gehalten werden, die sich durch die permanente und leichte Erreichbarkeit ergeben hat, oder muss durch die nun notwendige An- und Abreise wieder in fixierte Zeitrahmen zurückgekehrt werden? Müssen den Klient*innen die gewonnenen Optionen, die sie durch die Onlinetherapie erhalten haben, wieder vollkommen entzogen werden? Sind all die Techniken, die man durch die Adaption an das neue und unbekannte Setting erlernt hat, überhaupt wieder zu „ent-lernen“? All das sind Fragen, die die Rückkehr vom Online- ins Präsenzsetting betreffen, auf die es jedoch keine einheitliche Antwort gibt und die in den kommenden Jahren zunehmend Gegenstand psychotherapiewissenschaftlicher Forschung sein werden.

Allein das Wissen, was alles möglich ist, hat die klinische Tätigkeit in der Psychotherapie an sich verändert. Eine Rückkehr zum Status „Prä-Covid“ ist daher nicht möglich. Eine umfassende wissenschaftliche, ethische und berufspraktische Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Onlinetherapie ist zentral, damit die Rahmenbedingungen erweitert werden können, nicht nur für die Onlinetherapie, sondern für die psychotherapeutische Behandlung von Menschen insgesamt. Dieses Phänomen der Erweiterung des psychotherapeutischen Raums in den virtuellen und Onlineraum ist auch das Hauptergebnis der hier publizierten Studie – die „Therapie+“.

Die wichtigsten Erkenntnisse wurden zu jeweils eigenen Beiträgen verdichtet und als Kapitel in diesem Sammelband aufbereitet.

Im ersten Abschnitt des Sammelbandes widmen sich die Beiträge von Birgitta Schiller, Nina Hofer und Jana Bernroitner den konzeptionellen und theoretischen Grundlagen der Therapie+.

In Birgitta Schillers Text „Das körperliche Multiversum der Onlinetherapie“ wird eine Überschau über die Mannigfaltigkeit des Körpers gegeben und es wird auf einige Second Level Codes eingegangen, die sich mit Themen wie Präsenz, Ablenkungen, der Adaptierung und auch der Rolle der Psychotherapeut*innen in der Onlinetherapie beschäftigen.

Der Raum als essenzieller Bestandteil der Körperlichkeit sowie der Psychotherapie wird von Nina Hofer in „Raum und Räumlichkeit“ verdichtet analysiert.

Jana Bernroitner zeichnet in ihrem Beitrag „Ambivalenz: Onlinepsychotherapie als Chance, Verlust oder als Teil eines natürlichen Wandels?“ Paradoxien und Konflikte nach und zeigt auf, dass im Sinne der Therapie+ neue Chancen entstehen und dass der Wandel nicht aufhaltbar ist. Ausschlaggebend in der Psychotherapie ist die Reflexion der Ambivalenz, die selbstverständlich auch in der Onlinetherapie gegeben ist.

Danach folgt ein Abschnitt über den institutionellen Rahmen des Projekts, die Vorstellung der psychotherapeutischen Universitätsambulanz für Erwachsene der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien von Stella Becher-Urbaniak, Jessica Pacher, Paul Rach und Manuel Fürholzer und die angewendete Methode der Datenanalyse (Grounded Theory) von Birgitta Schiller, Stella Becher-Urbaniak und Eva Wimmer.

Der dritte Abschnitt des Buches widmet sich der klinisch-praktischen Arbeit im Onlinesetting und der Rolle, die die Therapie+ darin spielt.

Ute Langthaler-Wlasak setzt sich mit der Frage „Wie kann therapeutische Allianz im digitalen Raum gelingen?“ auseinander. Sie bringt theoretische Konzepte mit dem empirischen Material in Verbindung und eröffnet so einen weiterentwickelten psychotherapeutischen Betrachtungsrahmen.

Zelie Bajrami und Chiara Dankl schreiben in ihrem Beitrag „Körper – wer?“ über die spezifische Perspektive der Gestalttherapie und belichten den Körper und die Körperlichkeit im schulenspezifischen Diskurs. Bedeutend ist dies besonders für die Onlinetherapie, da der Körper in der Gestalttherapie im Zentrum der klinischen Tätigkeit steht.

Christian Landsteiner schließt mit „Kommunikation in der Onlinetherapie nach dem VAKOG-Modell“ an, indem er das Modell entsprechend der Forschung erweitert und aufzeigt, welche Limitationen gegeben sind, aber auch, wie durch andere Kommunikationskanäle

ausgeglichen und kompensiert werden kann.

Elena Lehner setzt sich mit dem „Phänomen des ‚Weniger-Spürens‘ – künstliche (Ab-)Grenz(ung) der emotionalen Übertragung im Onlinesetting“ auseinander. Dieser Beitrag trifft einen Kern der Onlinetherapie, den Aspekt der Präsenz – und analysiert demgegenüber das Phänomen des Spürens. Wie Abgrenzung in der Onlinewelt vollzogen werden kann, wird dabei mit psychotherapeutischen Überlegungen ausgeführt.

Auch im Beitrag von Elisa Urban geht es um Abgrenzung, jedoch aus einem anderen Blickwinkel. Sie reflektiert die Rituale zur Abgrenzung und Verarbeitung der psychotherapeutischen Tätigkeit im Onlinesetting. Vieles, was im Präsenzsetting alltägliche Handlungen sind, fehlt beim Umstieg auf die Onlinetherapie im Homeoffice, und so müssen Rituale erst geschaffen werden, um sich und den Raum zu professionalisieren. Die dadurch geschaffene Bewusstheit kann auch in die Therapie+ übernommen werden.

Sarah Schrattenecker greift die „Herausforderung psychotherapeutische Selbstfürsorge im Onlinesetting“ sehr konkret auf. In Auseinandersetzung mit dem empirischen Material zeigt sie Möglichkeiten der Selbstfürsorge auf, besonders mit dem Hintergrund einer vermehrten modernen Flexibilität und den neuen Beanspruchungen der Onlinetherapie wie der Zoom-Fatigue.

Stephanie Weibold führt die Diskussion über die Technologie in ihrem Beitrag „Erfahrungen und Umgang mit technischen Schwierigkeiten in der Onlinetherapie“ weiter, ohne dabei normativ wirken zu wollen. Vielmehr zeigt sie Lücken auf und eröffnet einen Diskurs über die Aus- und Weiterbildung.

Finalisiert wird der Sammelband durch den Beitrag von Stella Becher-Urbaniak, die sich dem ethischen Aspekt der Digitalisierung widmet und sich in ihrem Beitrag „Ethisches Praktizieren der Psychotherapie im digitalen Setting: Wahrnehmungen, Erfahrungen und Veränderungen“ damit auseinandersetzt. Sie stellt die Perspektiven der Psychotherapeut*innen in Ausbildung unter Supervision der psychotherapeutischen Universitätsambulanz für Erwachsene der SFU Wien damit in den Kontext der Therapie+.

AEinführung in Terminologie und Konzepte

Das körperliche Multiversum der Onlinetherapie

Birgitta Schiller

Zusammenfassung

Durch die Onlinetherapie kommt es zu einer vermehrten Beschäftigung mit dem Körper in seinen vielfältigen Ausprägungen und somit zu einer stärkeren Bewusstwerdung. Im psychotherapeutischen Diskurs wurde der Körper rhetorisch vernachlässigt, was nun im medialen Zeitalter keine Option mehr darstellt. Da der Körper nicht mehr vor Ort anwesend ist und sich mit anderen Körpern dynamisch bewegt, fühlt und kommuniziert, muss dies durch das bewusste Wahrnehmen und Ansprechen kompensiert werden. Gelingt es mit den veränderten Bedingungen eine Präsenz herzustellen, kann Onlinetherapie eine Möglichkeit darstellen, eine Versorgung zu gewährleisten. Andere körperliche Ebenen, die für eine gelingende psychotherapeutische Behandlung nötig sind, sind der sichere Raum sowie die Aneignung der psychotherapeutischen Rolle. Themen wie Nähe und Distanz sowie Ablenkungen und Adaptionen sind weitere Herausforderungen, die sich durch die Umstellung ergeben. Bisher „selbstverständliche“ Bereiche werden somit für die am Berufsbeginn stehenden Therapeut*innen sichtbar und klar. Neue Kompetenzen werden erlernt und die Awareness über den Körper und die Körperlichkeit kann schlussendlich auch nicht mehr „ent-lernt“ werden.

Abstract

Through online psychotherapy, the body’s manifold manifestations are intensively discussed, raising awareness. The body has been rhetorically neglected in psychotherapeutic discourse, which is no longer an option in the media age. Since the body is no longer present on the spot and does not move, feel, and communicate dynamically with other bodies, this must be compensated by consciously perceiving and addressing it. If it is possible to establish a presence with the changed conditions, online therapy can be a way to provide care. Other physical levels necessary for successful psychotherapeutic treatment are the safe space and the appropriation of the psychotherapeutic role. Issues of closeness and distance, distractions, and adaptations are other challenges that arise from the transition. Areas that were previously “taken for granted” thus become evident to the therapists at the beginning of their careers. New competencies are learned, and the awareness of the body and physicality cannot be un-learned.

Der Körper ist immer mit dabei

So wie man nicht nicht kommunizieren kann, sind wir laut Lemma auch immer mit einem Körper, der nonverbal spricht (Lemma, 2018, S. 27; Watzlawick, Bavelas, & Jackson, 2011). In der Psychotherapie herrscht ein gewisser Fokus auf Denken (Reflexion) und Sprache (Verbalisierung), und auch, wenn es heißt „Ich denke, also bin ich“ mit dem Credo „Erkenne dich selbst“, stellt das nur die Erkenntnis dar, dass man sich seiner selbst bewusst ist (Antonelli, 2014; Descartes, 2008; Tschuschke, 2017). Doch Sein ist ein körperliches, und jegliches Spüren und Wahrnehmen ist im Körper verankert (Appel-Opper, 2011; Downing, 1996; Geißler & Heisterkamp, 2013; Leikert, 2022; Lemma, 2018, S. 29). Erfahrungen werden körperlich abgespeichert und gelebt, und das transgenerational (Reddemann & Dehner-Rau, 2008; Van der Kolk, 2018). Kultur (Gender inbegriffen) wird körperlich verhandelt, und Beziehung ist nur mit Körpern herstellbar (Ainsworth, Blehar, Waters, & Wall, 2015; Downing, 1996; Leikert, 2022; Lemma, 2018; Merleau-Ponty, 1976; West & Zimmerman, 1987; Wimmer & Wagner, 2021). Über die Psyche-Körper-Einheit zu sprechen ist bis zu einem gewissen Grad eine Unmöglichkeit, da nicht komplett fassbare Phänomene immer nur umschrieben werden können (Leikert, 2022, S. 10–12; Lemma, 2018). Die Akzeptanz dessen sollte jedoch nicht davon abhalten, die komplexe Mannigfaltigkeit der Körper-Psyche-Einheit weiter zu erforschen (Frommer, 1998; Mörtl, 2021; Schiller, 2021).

Im psychotherapeutischen Dialog gibt es eine gewisse Hemmung, über den Körper zu sprechen. Dies mag laut Leikert (2022) daher kommen, dass die Psychoanalyse sich neben der Medizin wissenschaftlich als eigenständige Disziplin etablieren wollte (Leikert, 2022, S. 11). Im Laufe der Zeit haben sich Begriffe verfestigt, die mit dem Körper und der Körperlichkeit zu tun haben. An einigen Stellen wird auf eine Leiblichkeit verwiesen, die über den biologischen Körper hinaus verweist (Leikert, 2022, S. 8–9). Moderne Ansätze verwenden Begriffe wie embodiment oder es wird von enactments gesprochen. So kann der Körper

in die therapeutische Praxis einbezogen werden.

Was „der Körper“ jedoch genau ist, muss letztendlich offenbleiben. Der Körper kann ein medizinischer sein, ein biologischer, ein neurologischer, ein hormoneller, ein somatischer, ein psycho-somatischer, ein somato-psychischer, ein geschlechtlicher, ein gegenderter, ein phänomenologischer, ein fragmentierter, ein erkrankter, ein gesunder, ein aktiver, ein passiver, ein be- oder verhinderter, ein Wahrnehmungsraum, ein Resonanzkörper, ein Container; er kann objektiv oder subjektiv erlebt werden; er kann ein psychodynamisches Objekt sein, ein Objekt, das bekleidet wird und einen Habitus aufweist, in Bewegung ist oder bewegt wird, von einem Platz zum anderen gebracht wird, sich in einem Raum befindet und ohne die Räumlichkeit nicht gedacht werden kann; er kann durch einen intermediären Raum mit anderen verbunden sein, kann eine Bewegungsdynamik mit anderen bewegten Körpern haben; kann etwas sein, das begrenzt ist oder begrenzt, über das etwas sichtbar wird oder in das etwas hineinprojiziert wird; kann äußere Projektionsfläche sein; kann etwas übergestülpt bekommen; kann ein inneres Seelenleben mit Introjekten und Strukturen haben; kann eine Erscheinungsebene sein, ein Werkzeug (auf mehrfache Weise), das „Selbstverständliche“, mit dem gearbeitet, gespielt, getanzt, geliebt, gestritten, gelitten und geschlafen wird, mit dem man künstlerisch tätig ist und Kunst in jeder Form schaffen kann, Sport treibt; kann etwas sein, das sexualisiert wird, reist oder feststeckt, gepflegt wird; ist Statussymbol und eine Darstellungsebene; ist etwas, mit dem Kultur gelebt wird, eine Rolle verkörpert wird; ist ein Kommunikationsmittel – nonverbal sowie verbal; versprachlicht etwas, selbst Dinge, die präverbal sind (welche im Körper enthalten sind); ist ein Stimmkörper mit Lautstärke und Betonung, ein Körper mit Haltung, Sinnen und Ästhetik; mit ihm wird gespürt, wahrgenommen, gefühlt sowie empfunden (Riechen, Schmecken, Hören, Sehen, Wärme- und Kälteempfinden etc.); er weint, lacht, schwitzt oder wird rot bei der Empfindung von Scham; wird ernährt und erhalten oder es wird mit ihm gegessen; er nimmt auf oder stößt aus; lässt Nähe zu oder distanziert sich; kennt Anspannung und Entspannung; empfindet Stress oder prozessiert biologisch, ohne es bewusst zu merken; schützt sich und kennt natürliche Prozesse wie Flucht und Angriff; atmet; blickt in die Welt; ist je nach Anschauung das Körper-Ich oder das Körper-Selbst, ein Erfahrungsspeicher und Erinnerungskörper (Erziehung, Sozialisation, Krankheit, Trauma, Beziehung etc.), bewusst oder unbewusst; berührt aktiv und wird berührt, und das nicht nur äußerlich durch körperlichen Kontakt über die Haut, sondern auch innerlich auf einer psychischen Ebene; der Körper kann gelebt werden oder außen vor gelassen und instrumentalisiert werden, und er kann noch vieles mehr sein. Daher hier der Verweis, dass die dementsprechende Körperlichkeit in ihrer vernetzten Multidimensionalität je nach beschriebenem Phänomen adäquat mitgedacht werden muss und gelegentlich andere rhetorische Begriffe verwendet werden, jedoch mit dem Körper alles implizit angesprochen ist.

Das ursprüngliche Forschungsvorhaben, durch die Entfremdung des psychotherapeutischen Settings der Nicht-Anwesenheit von Körpern im selben Raum die Inhärenz von Körper und Psyche im therapeutischen Prozess zu erforschen, erwies sich als mehrdimensionale Erkenntnisgenerierung. Über die Forschungsfrage hinaus wird klar, dass in einem Zeitalter, in dem Technik und Medien einen großen Einfluss auf das tägliche Leben und Sein haben und in die Kultur derart integriert sind, der Körper und die Körperlichkeit umso mehr bewusst reflektiert und erlebt werden müssen.

In der psychotherapeutischen Entwicklung wurde der Fokus auf die Psyche gelegt, was sich in der Versprachlichung der psychotherapeutischen Techniken niederschlug, auch wenn der Körper immer implizit anwesend war und ist. Daher wurden auch der Körper und die Körperlichkeit nur marginal beleuchtet, mit dem Resultat, dass die wichtigste Funktion der psychischen Veränderung, nämlich das Spüren, rhetorisch vernachlässigt wurde (Buchholz, 2014; Clark, 2011; Dahlberg, 2019; Fuchs, 2020; Gallagher, 2006). Psychotherapie kann nur auf der Basis des körperlichen Wahrnehmens und der körperlichen Integration von Erkenntnis – und, noch wichtiger, von Erlebensprozessen – funktionieren. Es reicht nicht aus, zu denken oder zu wissen – es ist notwendig, die Veränderung zu spüren und somit im Körper zu lokalisieren, abzuspeichern und zu verankern, um diese auch zu leben. Zyklische Veränderungsprozesse sind somit immer auch körperliche und zumeist unbewusste (Gelo & Salvatore, 2016; Lemma, 2018, S. 45).

Autoren

  • Birgitta Schiller (Herausgeber:in)

  • Eva Wimmer (Herausgeber:in)

  • Stella Becher-Urbaniak (Herausgeber:in)

Herausgeberinnen Biographien Mag.a Birgitta Schiller hat an der SFU Wien Psychotherapiewissenschaft studiert. Sie ist Individualpsychologin in freier Praxis und wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Instituten für qualitative Psychotherapieforschung und Psychosomatik an der SFU. Forschungsschwerpunkte sind der Körper in der Psychotherapie und Psychosomatik. Eva Wimmer, MA ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für qualitative Psychotherapieforschung an der SFU Wien. In der Forschung liegen ihre Schwerpunkte auf der Schnittmenge von Psychotherapie und Sozialwissenschaft. Sie unterrichtet qualitative Forschungsmethoden und -praxis an der SFU und an der Universität Wien. Stella Becher, BA. pth. befindet sich im Magisterstudium der Psychotherapiewissenschaft und arbeitet als Therapeutin in Ausbildung unter Supervision in freier Praxis sowie an der psychotherapeutischen Ambulanz für Erwachsene der SFU Wien, an der sie seit 2020 auch den Posten der Forschungskoordinatorin bekleidet.
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