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Das gelungene Selbst

Ein humanökologisches Modell für therapeutisches Handeln

von Harry Merl (Autor:in)
400 Seiten

In Kürze verfügbar

Zusammenfassung

Harry Merl, der „Vater der systemischen Familientherapie“ in Österreich, gibt in diesem Buch einen umfassenden Einblick in den Therapeut:innenberuf. Im Zentrum stehen einerseits der hilfesuchende Mensch, andererseits das Wissen um das Wesen des Menschen. Der Autor führt in die Voraussetzungen ein, die Therapeut:innen erfüllen müssen, um erfolgreich helfen zu können. Die Konzepte, die der Autor darlegt (Ökologie des Lebens, Traum vom gelungenen Selbst, Ich-Haus, Grundbotschaften an zuträglicher Information), basieren auf seiner eigenen, jahrzehntelangen Erfahrung und seinem Wissen aus der Arbeit als Psychotherapeut und werden durch zahlreiche Fallbeispiele aus der Praxis veranschaulicht.
Therapeut:innen können die grundlegenden Methoden und Konzepte in ihrer Arbeit einsetzen, um den hilfesuchenden Menschen dabei zu unterstützen, Ressourcen zu erkennen, Hoffnung zu schöpfen, seine „Problemtrance“ zu überwinden und schließlich den „Traum vom gelungenen Selbst“ erfolgreich umzusetzen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einleitung

In diesem Arbeitsbuch geht es um Vorkenntnisse für die psychotherapeutische Arbeit. Diese Vorkenntnisse sollen zusätzlich helfen, das bisher Gelernte anzuwenden. Es geht um ein Menschenbild, zunächst unbeeinflusst von psychotherapeutischen Kenntnissen. Nun gibt es wohl niemanden, der kein Menschenbild hat: von sich und von seinen Mitmenschen. Jede/r ist damit auch gleichsam Hobbypsycholog/in und irgendwie auch Therapeut/in, wenn er/sie versucht, sich und andere zu verstehen und nach seinem/ ihrem Verständnis auch zu verändern. All das ergibt sich aus seinen/ihren Anlagen, Dispositionen, Stimmungen, Neigungen etc. und letztlich aus Erfahrungen und wird, wenn jemand sich als Helfer/in der Beeinflussung von Menschen berufsmäßig widmen will, durch entsprechende Ausbildungen überformt.

Nun sind in den helfenden Berufen die anerkannten Ausbildungen lt. Vorschrift lange und auch finanziell aufwendig und prägen die Auszubildenden auf ihre Weise. Gerade in den helfenden Berufen ist der Einfluss der Ausbildung deswegen groß, weil sie dem/der zukünftigen Helfer/in mit seinem/ihrem mitgebrachten Menschenbild ein Modell vermittelt, wie er/sie Menschen helfen kann. Diese Vermittlung geschieht in einer diesem Modell eigenen Sprache mit eigener Terminologie. Dadurch wird automatisch auch eine bestimmte Sichtweise des Menschen – ein Menschenbild – vermittelt, das einen wirkungsvollen Zugang zur Rätselhaftigkeit des Menschen bzw. zu ihrer Aufklärung verspricht, mit dem legitimierten Anspruch, dadurch auch wirkungsvoll helfen zu können, d. h. auch legitimierte Macht über die/den Hilfesuchende/n haben zu dürfen. Diese Aussicht ist für die Person, die sich für die Arbeit mit Menschen entschließt (und sich dadurch auch eine Existenzgrundlage erhofft), verlockend und faszinierend. Immer wieder hört man von Patient/inn/en oder Klient/inn/en (wie sie im nicht medizinischen Bereich genannt werden), die von ihren Helfer/inn/en in Supervisionen und auch auf Kongressen gemäß einem solchen bestimmten Modell zur Begründung einer bestimmten These und darauf begründeten Vorgangsweise oder auch Schwierigkeit beschrieben werden, d. h., ein bestimmtes Modell vermittelt jedem Studenten/jeder Studentin bestimmte „Vorurteile“, die von ihm/ihr nicht als solche, sondern als (besonders durch die Terminologie) wissenschaftlich begründet angesehene Annahmen verstanden werden.1

Demgegenüber steht aber die Erkenntnis, dass sich aus der Beobachtung erfahrener Helfer/innen weniger Unterschiede im praktischen Handeln ergeben als in ihren Diskussionen in ihrer Rolle als Ausbildner/in mit Student/inn/en über einen „Fall“. So musste eine Ausbildungskandidatin im „Katathymen Bilderleben“, die bereits lösungsorientierte systemische Einzel- und Familientherapie praktizierte, bei der Vorstellung eines erfolgreich behandelten und abgeschlossenen Falles systemischer Paartherapie von ihren Ausbildungsleitern hören, dass sie nicht auf die „frühkindliche Störung“ eingegangen sei, dass es (trotz des bereits erreichten Erfolges!) hier auf eine lange dauernde Vorarbeit an der „Primärstörung“ angekommen wäre und die Beziehung zum Partner dabei keine besondere Bedeutung hätte.

Die Frage der Identitätsbildung durch eine bestimmte Schule ist offenbar von viel größerem Gewicht, als es den Anschein haben mag, und zwar für beide Seiten, Ausbildner/in wie Ausbildungskandidaten/-kandidatin. Identität ist ein wesentlicher Faktor des Gefühls, ein „Jemand“ in einem bestimmten Therapeut/inn/enfeld zu sein, dies nicht nur fachlich, sondern auch was die Geltung einer Person in einem bestimmten Kreis betrifft, einem sozialen Feld mit Prestige, in dem Ausbildner/in durch jede/n Auszubildende/n und die Auszubildenden vor ihren Ausbildner/inne/n ihr eigenes Prestige durch sie gewinnen wollen.2

Ausbildungskandidat/inn/en sind also auch in der schwierigen Situation, im Bereich ihres Faches Fuß fassen und ihre „Ehre“ vor ihren Ausbildner/inne/n gewinnen zu müssen – etwas, das nur durch das Erlernen des Modells und des zugehörigen Jargons möglich ist, mit dem man sich dann mit den anderen verständigen und „fachsimpeln“ und so im Dialog mit ihnen seine Identität gewinnen und immer wieder bestätigen kann. Erst mit gefestigter Identität ist die Bereitschaft größer, sich über die Grenzen des Modells hinaus über Gemeinsamkeiten zu verständigen (Levold, 2004).

Dies wird durch die im Laufe der Zeit mit dem jeweils verwendeten Modell gemachten Erfahrungen ermöglicht, d. h. aus der Anwendung eines Modells auf die vielfältig manifestierte Komplexität des leidenden Menschen und aus den Erkenntnissen über Gemeinsamkeiten mit anderen Modellen sowie daraus folgend aus Modifikationen des ursprünglich erlernten Modells. Diese Art Erfahrung kann aber in keiner Ausbildung erlernt, sondern nur durch die Arbeit mit Menschen mit der Zeit erworben werden. Daraus ergibt sich die Brauchbarkeit eines bestimmten Modells bzw. die Notwendigkeit seiner Veränderung, um es brauchbar zu halten, aber auch die Möglichkeit eines Modellwechsels bzw. eklektischen Vorgehens.

Aus alledem entsteht eine interessante Komplikation:

Im Zusammenhang mit dem vielfältigen Angebot an Ausbildungen in verschiedenen Therapiemodellen ergibt sich in den letzten Jahren zunehmend, dass der/die in einem bestimmten Modell kaum fertig ausgebildete oder noch in Ausbildung stehende Kandidat/in sich innerhalb kurzer Zeit in einem oder sogar mehreren weiteren Modellen ausbilden lassen will, ohne noch im ersten Modell „sattelfest“ zu sein. Dies macht der/die Auszubildende, um möglichst viele Arten von Hilfe anbieten zu können, d. h. schon frühzeitig ein/e vielseitige/r Experte/Expertin zu sein, sowie um seine/ihre Identität fast gleichzeitig in vielen Feldern zu gewinnen, was auch die Schilder für die Eigenwerbung zeigen, mit denen die Dienste angeboten werden.3 Viele Ausbildungen bestehen dabei oft in der Teilnahme an wenigen Seminaren, die häufig kurz und konzentriert sind und in welchen die Teilnehmer/innen häufig die Stelle von Klient/inn/ en einnehmen. Daraus ergibt sich aber kein echter Eklektizismus. Die ausbildungsbedingten Voreinstellungen des Ausbildungskandidaten/der Ausbildungskandidatin erscheinen ihm/ihr selbstverständlich, wohl aber der Person nicht, die das Modell und die zugehörige Sprache nicht kennt. Auf die aber, auf die es angewandt wird – und das geschieht sowohl beim Ausbildungskandidaten/bei der Ausbildungskandidatin in der von seiner/ihrer Ausbildung vorgeschriebenen „Selbsterfahrung“ als auch bei dem Menschen, der bei einem/einer in diesem Modell Ausgebildeten Hilfe sucht –, die nichts von der Vielfalt der Modelle wissen und sich einem davon aussetzen, ist es in erster Linie die Konfrontation mit einem Bild ihrer selbst mit allen Erklärungen, die sich daraus ergeben, mit dem sie sich zunächst inhaltlich auseinandersetzen. Sie lernen sich so in erster Linie gemäß dem Modell sehen, mit dem der/die Ausbildner/ in (der/die in der Selbsterfahrung Helfer/innenfunktion hat) bzw. Helfer/in sie sieht, und können, wenn sie diesem verbunden bleiben, zwar Erfahrungen entsprechend der modellgegebenen Ideologie und Begriffswelt machen, nur schwer aber das Modell als nur eine Sichtweise erkennen, die gleichberechtigt neben anderen möglichen Sichtweisen steht. So hatte die sogenannte „Aufstellungsarbeit nach Hellinger“ immer wieder dazu geführt, dass Menschen das, was sie dabei erleben – wie auch von Hellinger propagiert – als „Wahrheit“ über ihre Beziehungen in der Vergangenheit und damit diese als Ursache ihrer Probleme ansehen, und, wenn auch manche sie als hilfreich und als Anstoß zur Veränderung ihres Lebens sehen,4 andere darüber verzweifelt sind, besonders wenn Anmerkungen im Sinne von „Du hast keine Chance“ seitens des Helfers/der Helferin fallen.5 Das zeigt, dass der/die Helfer/in selbst von seinem/ihrem Modell über seine/ihre Überzeugung von dessen Wirksamkeit hinaus „ergriffen“ ist.6 Die Plausibilität einer Methode, der bestimmte theoretische, von den „Modellbildner/inne/n“ meist in Büchern dargelegte Grundannahmen unterlegt werden, die sich vor allem aus den persönlichen Erfahrungen und Einstellungen des Helfers/der Helferin ableiten, macht sie besonders für Leidende suggestiv und dadurch so plausibel.7 Die Hilfesuchenden „unterwerfen“ sich daher oder wehren sich, um dann zu einem/einer anderen Helfer/ in zu wechseln, bei dem/der sie, was dessen/deren Modell betrifft, um eine Erfahrung reicher in die gleiche Situation kommen können.8

Natürlich stellt sich hier die Frage nach der Bedeutung des Modells als Vorurteilsbildner. Meist als voreilig gefälltes Urteil verdammt, das dem „wirklichen Verstehen“ im Wege steht, ist ein Vorurteil doch selbst ein erstes Instrument für jede Situation. Ohne Vorurteil würde sich alles im Alltag enorm verlangsamen, müssten doch Menschen sich erst allmählich und immer wieder ein Urteil bilden, welches wohl auch nichts anderes als ein Vorurteil wäre, betrachtet man den Prozess, wie Information aufgenommen und verarbeitet wird bzw. wie im Rahmen der Verarbeitung – abgesehen von der Bildung und Ausbildung – emotionale und kognitive Erfahrungen, Kenntnisse und „Erkenntnisse“, situative Einflüsse etc. in die Urteilsbildung eingehen. Dabei wird manches als etwas „Bekanntes“ angesehen und relativ unreflektiert als solches verwertet, obwohl gerade dies meist die Tilgung von Information bedeutet, d. h. dass entsprechend der Beschreibung von Piaget (2016) über die kognitive Entwicklung des Kindes „assimiliert“ wird, solange dies nur möglich ist, sodass die Einmaligkeit jeder persönlichen Situation auf „Das kommt mir bekannt vor“ und weiter zu „Das erkenne ich jetzt“ reduziert wird. Etwas Neues sehen zu lernen bedeutet, rechtzeitig zu „akkommodieren“, d. h. die aufgenommenen Erfahrungen nicht nach einem bekannten Schema zu sehen und damit gleich zu „erkennen“, sondern bereit zu sein, bekannte Schemata erweitern oder überhaupt neue schaffen zu müssen. Das bedeutet von Anbeginn an Wachsamkeit gegenüber dem eigenen Erkenntnisprozess.

Eve Lipchik (2004) hat hierfür den Begriff des „Dual Trackings“ geprägt, d. h. des doppelten inneren Dialogs, den ein/e Therapeut/in führen muss, um sich einerseits der eigenen Einstellungen und andererseits der für den Klienten/die Klientin nützlichen Einstellungen bewusst zu bleiben, um nicht in die Falle seiner/ihrer eigenen Erfahrungen zu kommen und die Situation aus dieser Sicht zu bewerten und zu beeinflussen. Dies hat besonders bei der Behandlung von Paarbeziehungen Bedeutung, wo den Klient/inn/en von den Helfer/inne/n oft zur Scheidung geraten wird, „wenn sie es nicht mehr aushalten“, meist aus der eigenen Erfahrung des Helfers/der Helferin, selbst geschieden zu sein.

Nun sind gerade die Modelle, nach denen helfende Berufe arbeiten sollen, schon deswegen informationsreduziert, weil jedes Modell des Menschen immer informationsreduziert ist. Wie viele Beschreibungen kann es geben, die alle denselben Menschen betreffen, aber doch je nach Sichtweise verschieden sind? So wurden 2014 etwa 400 therapeutische Modelle genannt (Sharf, 2014), deren besondere Wirksamkeit von ihren „Vätern“ vertreten und propagiert und mit Erfolgsgeschichten untermauert wird.9 Das alles trägt beim/bei der Helfer/in zu einer Prägung bei, die der Tatsache, dass Menschen niemals vollständig beschreibbar sind, nicht mehr Rechnung trägt, denn: so viele Beschreiber/innen, so viele Ansichten und Sichtweisen. Das ist aber nicht nur ein Nachteil, sondern auch ein – wenn auch unbequemer – Vorteil, erlaubt, ja verlangt er doch von jedem/jeder Helfer/in das, was ich integrative Vielseitigkeit nennen möchte, d. h. die Fähigkeit einerseits die Redundanz, andererseits aber auch die verschiedenen und für ihn/sie neuen und interessanten Ansätze und Akzente der verschiedenen Modelle zu sehen, die doch nur „den einen Menschen“ zu erfassen suchen. Die integrative Vielseitigkeit fordert geradezu heraus, dies zu sehen und zu berücksichtigen.

Das hier Vorgelegte ist ein Ergebnis aus Erfahrung und daraus abgeleiteten Regeln, niedergeschrieben als Theorie. Es soll Ausbildner/innen, Ausbildungskandidat/inn/en sowie (spätere) Helfer/innen auf die Notwendigkeit hinweisen, vielseitig in Hinblick auf die Sicht auf den Menschen zu sein, zu werden und immer zu bleiben. Zudem soll dieses Buch die Diskussion in den Ausbildungsgruppen beleben. Der Mensch ist so! Ist er so? Wenn damit auch Verunsicherung ausgelöst werden kann, so kann das hier Geschriebene auf diesem Wege einen Brückenschlag hin zu einer stärkeren Integration der verschiedenen Modelle bringen. Das würde zwangsläufig zu einem grundsätzlich offenen Supermodell führen. Das ist auch eine asymptotische Absicht des Autors, der damit allerdings auch wieder ein Modell propagiert, aber eines, das sich dank der Offenheit immer mehr – wenn auch asymptotisch – der Realität annähern könnte.

Damit stellt sich natürlich die Frage nach dem Standpunkt des Autors.

Schon während meines Medizinstudiums stark vom psychoanalytischen Denken fasziniert und damit beschäftigt, weil es sich mir als Modell zum Verständnis des Menschen anbot, machte ich zunächst meine Ausbildung zum praktischen Arzt in einem kleinen Krankenhaus, ging anschließend für ein Jahr auf eine Unfallchirurgie, um meinen „Turnus“ abzuschließen, und entschloss mich dann zur Ausbildung zum Psychiater. An allen drei Stationen dieses Weges lernte ich wegen des damals herrschenden Personalmangels möglichst selbstständig zu arbeiten und zu handeln, um zu helfen. Dabei kristallisierte sich gerade durch die Unfallchirurgie allmählich die Erkenntnis heraus, dass alles, was ich tat und tun musste, um zu helfen, die – möglichst weitgehende – Wiederherstellung der Gesundheit zum Ziel hatte. Körperlich gesehen ist das nichts Neues. Aber für den Psychiater geht es um die Wiederherstellung der Seele. Das war und ist noch immer mein Ziel.

In der Zeit meiner psychiatrischen Ausbildung – endlich psychoanalytisch und gruppentherapeutisch im psychoanalytischen Sinn ausgebildet und zertifiziert – habe ich seit dem Jahr 1968 Familientherapie in der Arbeit mit psychiatrischen Patient/inn/ en erlernt, d. h. nur auf Anregung meines verehrten und schon verstorbenen Lehrers Raoul Schindler, der mir dies quasi beiläufig vorschlug, weil er sich selbst mit der Arbeit mit Familien, allerdings in Eltern- und Patient/inn/engruppen aufgeteilt, genannt „Bifokale Gruppentherapie“, beschäftigte. Damals gab es nur amerikanische Literatur, aber keine Seminare und viele Vorurteile seitens der Psychiatrie und der vorherrschenden Psychotherapieideologie, die tiefenpsychologisch geprägt war, dass die Arbeit mit Familien „unmöglich“ sei, weil „die Väter niemals kommen würden“. Es war Lernen aus der Notwendigkeit, und mühsam durch meine vorausgegangenen Ausbildungserfahrungen, und ich habe damit gelernt, „Systeme zu sehen“. So erkannte ich, dass das „Interpretieren“, wie ich es als Psychoanalytiker und „Gruppenanalytiker“ gelernt hatte, so lange nichts nützte, wie es nicht zu einem Anders-Handeln der Betroffenen, zu einem Anders-miteinander-Umgehen und letztlich dadurch zu einem Einander-anders-Sehen geführt hat. Mir wurde dabei klar, dass erst das Miteinander-anders-Umgehen bei den Patient/inn/en bzw. Klient/inn/en zu „Erkenntnissen“ über sie selbst und die anderen führte. Das bedeutete für mich, dass ich, anstatt zu interpretieren, zu diesem Anders-Handeln animieren musste und, um das zustande zu bringen, selbst anders mit den Betroffenen umgehen musste. Dazu wieder musste ich lernen, die Ökologie der Menschen zu bedenken, d. h. ihren Bedarf als Menschen, den sie im gleichzeitigen Umgang mit sich selbst und im Zusammenleben mit den anderen ja decken müssen. Wenn dies nicht gelang, musste ich das Krank- oder Hilflos-Sein als die „bestmögliche Lösung“ für die Existenz der Betroffenen erkennen lernen. Ebenso erkannte ich, dass es für die Klient/inn/en unmöglich erschien, diese „bestmögliche Lösung“ aufzugeben, ohne zu wissen, ob es vielleicht doch eine bessere gab als das, was sie kannten. Da war er wieder, der „Widerstand“, den ich aus der Psychoanalyse kannte. So führte alles bisher Gelernte dazu, „integriert“ denken und sehen zu lernen, nicht auszugrenzen, sondern einzuschließen, Geschichte und aktuelle Situation zu verbinden und abschätzen zu lernen, was nützlich ist, um zu helfen. Das erschien mir letztlich als das vorrangigste Ziel, zeigt doch die Psychiatrie deutlicher als alle anderen Disziplinen der Medizin die Notlagen der Menschen auf, vor allem weil die Menschen als Teil der Behandlung darüber befragt werden und darin verstanden werden müssen.10 Dabei habe ich gelernt, Informationen – so verrückt oder unwahrscheinlich sie erscheinen möchten – nicht einfach als unwichtig oder bedeutungslos zu verwerfen, sondern als oft stark verschlüsselte Aussagen über die Existenz zu sehen. Ich habe auch gelernt, Konzepte zu verbinden und zu erkennen, wie wichtig es ist, alles von verschiedenen Perspektiven aus zu sehen, allen – und nicht nur Klient/inn/en gegenüber, deren Lage so ergreifend und deshalb zur Parteilichkeit verführerisch ist – einerseits „allparteilich“, andererseits „neutral“ gegenüberzustehen,11 gegebenenfalls auch mir bis dahin unvertraute Standpunkte zuzulassen und dann, wenn notwendig, zu entscheiden, was zu tun nützlich ist (Simon & Stierlin, 2004).

Integriert zu denken, was mich zunächst verunsichert hatte, weil ich meine erlernten und daher sicher erscheinenden Standpunkte verlassen musste, wurde immer reizvoller und eröffnete mir das „Universum der Sichtweisen“, das ich betreten hatte.

Mit zunehmender systemischer Erfahrung führte das zu der für die „Schulen“ unangenehmen, für mich aber reizvollen Erkenntnis, dass letztlich alle Psychotherapie als systemische Arbeit anzusehen ist, weil sie unabdingbar im Netzwerk stattfindet, in dem auch Helfer/innen und Klient/inn/en im Hier und Jetzt in einer speziellen Aufgabe mehr oder weniger lange andauernd verbunden sind. Das mag für die Schulen deshalb unangenehm sein, weil sie durch ihr Modell im Netzwerk ja ihre Identität gewinnen und behalten müssen. Sie retten sich ihre Identität dadurch, dass sie sich „systemisch“ – und damit sich abgrenzend – auch einer Schule zuschreiben, anstatt sich selbst als Teil eines nicht wegzudenkenden Netzwerks zu sehen.12

Nun bildet sich jede Schule aus einem Modell der Gründer/innen, das sie aus ihren Erfahrungen entwickelt haben und das hilft, die Komplexität dieses Netzwerks auf ein handhabbares Maß zu reduzieren. Gerade das aber bedeutete für mich, die eigene Ansicht zu relativieren und die eines anderen zu respektieren, gehen doch in dieses Netzwerk alle Faktoren ein, die das Leben der Beteiligten gestalten – zu deren Wohl oder Weh, seien es Therapeut/inn/en oder Klient/inn/en oder deren Angehörige und alle, die sonst noch dazugehören, nicht zuletzt die Umwelt schlechthin. Daher ist es gut, diese Faktoren, die das Netzwerk gestalten und in ihm wirken, so weit sie schon erkennbar sind, möglichst zu kennen, bevor sie in ein Modell gegossen werden, nicht zuletzt um die Begrenztheit eines bestimmten Modells und die Möglichkeit eines anderen zu erkennen und immer neue Faktoren zu erwarten.

Dies hilft diese Faktoren zu relativieren und vor allem den Menschen in seinem Wesen als einmalige körperlich-seelisch-geistige Einheit, der seinen Weg in der Welt sucht und seine Zukunft bestmöglich gewinnen will, im Auge zu behalten, denn: Helfen heißt immer Zukunft zu ermöglichen.

1 Zur Illustration siehe Wolfensberger & Hunter, 2002.

2 Die Ausbildner/innen werden nicht nur zur Bekräftigung des Renommees genannt („Ich bin ein/e Schüler/in von …“), sondern auch zu „Vätern“ bzw. „Müttern“ einer bestimmten Richtung ernannt.

3 Auf den Homepages der Anbieter/innen preisen sich die betreffenden Helfer/innen als Expert/ inn/en in vielem an. In einem Sammelband zur Arbeit mit Familienaufstellungen zeigen die Recherchen, wie viele sich ohne spezielle Therapieausbildung und mit nur wenigen Seminaren in Familienaufstellung auf ihren Homepages als vielfältige Expert/inn/en empfehlen (Goldner, 2003).

4 Die Theorie der Veränderung zeigt, dass alles einen Anstoß zur Veränderung geben kann, wenn es vom System als für seine Lage in einem bestimmten Kontext wichtig angesehen wird (Mücke, 2000).

5 Persönliche Beobachtung des Autors und von anderen Therapeut/inn/en und Zuschauer/inne/n.

6 Das Ergriffensein tritt umso eher ein, als ein Modell scheinbar einfach und „logisch“ ist, wie das auch bei der sogenannten „Urschrei-Therapie“ der Fall war, welche Arthur Janov in seinem Werk „Der Urschrei“ (1970) beschrieb. Die Einfachheit der Modelle veranlasst dann nicht nur viele dazu, Helfer/in zu werden, sondern verführt diese Helfer/innen auch dazu, es freigiebig anzuwenden, sehr oft kritiklos, sodass sie, wenn es bei jemandem nicht „klappt“, oft ratlos davorstehen und ihm gegenüber in ihrer Hilflosigkeit oft brutal abweisend sind.

7 Die Darlegung in Büchern ist im Übrigen etwas, was Ehrfurcht vor den Modellbildnern einflößt, was dem Modell zusätzlich Gewicht verleiht. Sie zu „haben“, d. h. zu besitzen, lässt an deren „Größe“ und Erkenntnis teilhaben. Das zeigt sich dann auch bei Ausbildungsseminaren, in denen die Teilnehmer/innen die Materialien „haben“ wollen, oft ohne sie später jemals zu verwenden oder auch nur anzusehen. Das „Habenwollen“ schmeichelt aber auch dem/der Ausbildner/in und vermittelt ihm/ihr das Gefühl, etwas Wichtiges gesagt oder getan zu haben.

8 So hat eine Untersuchung der Wirkfaktoren der Therapie gezeigt, dass nur 15 % des Erfolgs einer Therapie von einem bestimmten Modell abhängen, während die außertherapeutischen Faktoren 40 % und die Qualität der Beziehung 30 % des Erfolges begründen (Miller et al., 2000).

9 Auf Misserfolge bzw. schlechte Erfahrungen mit seiner Methode angesprochen, war bei einem großen Psychotherapiekongress ein durch sein Modell sehr bekannter Therapeut nicht in der Lage zu antworten, sondern begann sofort mit seinen Erfolgsgeschichten (eigene Erfahrung).

10 Dieses Befragen und Verstehen der Patient/inn/en ist etwas, das sich nur sehr allmählich durchgesetzt hat bzw. noch durchsetzen muss, ist doch die Psychiatrie eine Disziplin der Medizin, die in ihrem Selbstverständnis die Krankheit als Ereignis in einem Menschen sieht – vergleichbar mit den somatischen Erkrankungen –, das man wie bei diesen, nämlich mit „Mitteln“, wieder beseitigen muss. Es ist immer wieder erstaunlich, wie viele Ärzte/Ärztinnen und auch Fachärzte/-ärztinnen der Psychiatrie, ohne viel nach der Lebenssituation und deren Bewältigung zu fragen, vermehrt Medikamente einsetzen, in der Hoffnung damit zu helfen. Sie richten sich eher nach den Wirkungen, wie sie die Pharmaindustrie in den Beschreibungen angeführt hat. In einer solchen Beschreibung eines viel angewandten Antipsychotikums (!) wird z. B. unter Nebenwirkungen angeführt, dass diese sich „unter Umständen“ genau so zeigen wie die Erkrankung, die das Medikament behandeln soll.

11 Es mag merkwürdig scheinen, beide Einstellungen zu kombinieren. Da aber „allparteilich“ bedeutet, die Standpunkte aller einzunehmen, und „neutral“ bleibend, sich nicht in die Spiele der Klient/ inn/en einbeziehen zu lassen, ergibt sich aus dieser Verbindung, dass man bei allem Mitgefühl mit jedem Menschen, der um Hilfe kommt, oder wenn man einen solchen begleitet, seinen eigenen Standpunkt in Bezug auf das, was jetzt ist und am besten helfen könnte, behalten muss.

12 Ein Beispiel dafür ist die von den Psychoanalytiker/inne/n der 40er- bis 60er-Jahre von ihren Ausbildungskandidat/inn/en verlangte Kontaktvermeidung mit den Angehörigen, so als ginge es nur um individuelle Entwicklung, welche in der „trauten Zweisamkeit“ der analytischen Situation angestoßen werden sollte. Aber schon länger gab es die Ansicht, dass „die Familie immer unter der Couch sei“ (Greenson, 2016). H. Goolishian berichtet in einem Seminar 1992, wie er als Analytiker sich anfangs vor der Kritik seiner Kolleg/inn/en fürchten musste, weil es verpönt war, Angehörige zu sehen, bis er es wagte, aber damit unweigerlich auch den Weg zur Familientherapie beschritt.

Vorwort

Ich habe mein erstes Buch zu diesem Thema im Jahre 2006 veröffentlicht, mit dem Titel „Über das Offensichtliche oder: Den Wald vor lauter Bäumen sehen“. Während meine Absicht unverändert geblieben ist, haben sich doch neue wichtige Aspekte gezeigt, die für die helfende Arbeit unentbehrlich sind. Was war und ist diese Absicht? Verständlich zu machen, dass man den „Menschen“ genügend kennenlernen muss, bevor man Helfer/in für ihn wird. Das ist dann der nächste Schritt. Es sind auch neue Aspekte hinzugekommen. Diese Aspekte betreffen Erkenntnisse über das Gehirn als Kommunikationsorgan des Menschen und die Bedeutung der Kenntnisse von den Gesetzen der Kommunikation, insbesondere im Zusammenhang mit den Ergebnissen der Gehirnforschung und – für mich besonders wichtig – die Ökologie generell sowie – für das Helfen-Können von höchster Bedeutung – die Humanökologie. Sie ist ein Schlüssel zum Verständnis des „Menschen“ als Lebewesen, mit allem, was das bedeutet. Auch meine Erfahrung hat sich so erweitert, dass dadurch die helfende Arbeit leichter werden kann. All das war wiederum Grundlage für meine Arbeit als Universitätslehrer an der Klinik für Psychiatrie an der Medizinischen Universität Wien und hat bei den Student/inn/en nicht nur großen Anklang gefunden, sondern ihnen auch erfreuliche Erkenntnisse und Erfahrungen mit den Familien gebracht, wie sie in ihrer Abschlussarbeit beschrieben. Besonders wenn sie ihre eigenen Familien beschrieben hatten, berichteten sie meistens, dass sie ihre Einstellungen verändern konnten und sich dadurch die Kommunikation in ihren Familien positiv verändert hat.

Was den Aufbau dieses Buchs betrifft, so bleibt auch er im Wesentlichen unverändert zum vorigen, wird aber in den Kapiteln so ergänzt, dass das, was hinzukommt, in den früheren Text entweder einfließt und ihn entsprechend erweitert oder ihn durch neuen Text ersetzt.

Ich habe manchmal ein Fragezeichen hinter eine Textpassage gesetzt. Das soll Leser/ innen zum Versuch anregen, sich selbst eine Antwort zu überlegen. Die Leser/innen müssen aber letztlich entscheiden, ob das Buch ihnen Hilfe und Erleichterung in ihrer Arbeit mit Menschen vermittelt.

Vorausgeschickt sei, dass alles, was ich hier darlegen möchte, aus meiner eigenen Erfahrung durch mehr als 40 Jahre psychiatrischer und psychotherapeutischer, insbesondere systemischer und dabei familientherapeutischer und supervisorischer Erfahrung mit Supervisand/inn/en verschiedener Ausbildungsrichtungen stammt. Das Konzept dieses Buches besteht darin, ausgehend von der zu erwartenden und schließlich eintretenden Begegnung mit einem Menschen die Gedanken und Überlegungen anzustellen sowie vor allem die Bedingungen vor Augen zu führen, die zu sehen notwendig ist, bevor der/die Helfer/in zu „arbeiten“ beginnt. Es ist ja diese/r andere Unbekannte, der/die mit seiner/ihrer Geschichte, seinem/ihrem Leben und seiner/ihrer aktuellen Situation sowie mit einem bestimmten Anliegen zu mir kommt und von mir Hilfe erwartet. Dasselbe kann auch eine Familie oder Gruppe betreffen, aber auch die Arbeit von Helfer/inne/n mit anderen Menschen in Form von Supervision oder Coaching.

Dass Hilfe freiwillig gesucht wird, ist die normale Ausgangssituation für den/die Helfer/in. Davon abweichend ist z. B. die Situation der Unfreiwilligkeit beim Zustandekommen dieses Kontakts, z. B. auf gerichtliche Weisung, oder die des nicht erwünschten Kontakts und schließlich die des Kontakts in einer Situation, in der der/die Hilfesuchende in einer anderen Realität als ich ist, wie etwa bei Drogenabhängigkeit oder im Fall einer Psychose. Dazu kommt die Arbeit mit Paaren und Familien.

All diese Situationen erfordern von mir die Erkenntnis des/der anderen als Mitmenschen mit aller Komplexität seines/ihres Lebens, denn er ist/sie sind doch mein(e) Mitmensch(en)!13 Wir alle haben unsere komplexen Verhältnisse, jeder auf seine Weise und mit je verschiedenen Auswirkungen auf uns als (Mit-)Menschen. Dass wir trotzdem helfen müssen, ist die faszinierende Arbeit, die wir tun wollen. Dabei soll erst von einer ersten Begegnung zwischen Helfer/in und Klient/in ausgegangen werden.

13 Eine sich wegen einer bipolaren Erkrankung in Psychotherapie befindliche Klientin war sehr erleichtert, als ihr Therapeut ihrer Mutter gegenüber beiläufig erwähnte, dass mehrere seiner engeren Angehörigen dasselbe Leiden hatten bzw. haben. Das wirft im Übrigen das in der Literatur immer öfter erwähnte Problem der „self-disclosure“, der Eröffnung der eigenen Situation und Erfahrung, auf.

1. Teil

1.1 Einleitung: Modelle, Modelle, Modelle …

Jede Begegnung ist eine Begegnung von Modellen (siehe auch „Ich-Haus“, S. 166):

Modelle sind relativ stabile Vorstellungen jedes Menschen von der Welt und davon, wie er darin mit sich und anderen Menschen sowie mit seiner Umwelt überhaupt umgehen kann, um zu leben, zu überleben und seine Ziele zu suchen und zu erreichen. Dies geschieht im Rahmen der Dynamik der Seele und ergibt sich aus allen Lernerfahrungen bis zum Zeitpunkt einer Begegnung und auch in Vorausperspektive. Die Lernerfahrungen sind für die Begegnung von Menschen mit der Welt, speziell mit der Umwelt, und auch mit sich selbst angepasste Sichtweisen, die das Handeln vorbereiten, d. h. das Einleiten einer Handlung und deren erwünscht positiven, d. h. erfolgreichen, Abschluss. Dabei offenbart sich ein vielfältiges Kräftespiel der Seele, das sich auch körperlich in Mimik, Gestik und Haltung zeigt und dem Gegenüber signalisiert, wie es aus seinem Modell nach all seinen Erfahrungen darauf antworten will oder kann. Die Erfahrungen können flexibler oder starrer, realistisch oder unrealistisch sein, d. h. sie äußern sich so in der Begegnung.

Zum Verstehen der Komplexität einer Begegnung gehört auch die Kenntnis der Kräfte, die in der Begegnung die Bewegung auslösen und sichtbar machen. Es sind Energiequanten in Form von allen verbalen und nonverbalen Äußerungen, die im Austausch von Lebewesen – und damit auch von uns Menschen – in Begegnung mit sich selbst und der Umwelt diese Dynamik gestalten, je nachdem auf welche Sensoren sie treffen.

Kennt ein/e Helfer/in die Sensoren so gut er/sie sie kennen kann, kann er/sie durch sein/ihr in sein/ihr persönliches Modell integriertes Helfermodell versuchen, ihm/ihr hilfreich erscheinende Veränderungen im Modell seines/ihres Gegenübers zu bewirken.

Dabei geht er/sie von seinem/ihrem „Modell“ aus, d. h. von seinen/ihren mehr oder weniger komplexen Vorstellungen über die Arbeitsweise des Organismus und speziell der „Seele“ und den daraus abgeleiteten Möglichkeiten, sie positiv zu beeinflussen. Das gilt für jede/n Helfer/in, ob professionell oder nicht.

Was „macht“ jeder mit seinem Modell? Man wirkt als Gegenüber mit Worten, Gesten und Haltungen, mit „Ausstrahlung“ (ja, die gibt es!) und „seinen“ Meinungen, d. h. vorgeformten Ansichten, „seinen“ Hoffnungen und Befürchtungen auf das Gehirn des Gegenübers ein, das als „Hüter seiner Seele“ der Seele über alle Sinne – dazu gehört auch das, was 6. Sinn genannt wird – gefiltert und gestaltet durch dessen Modell Informationen zugänglich macht.

Der/die „Helfer/in“ fühlt sich von Anfang an verpflichtet verschiedene Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, von denen er/sie meint, dass sie dienlich sein könnten.14 Dazu benützt er/sie zusätzlich bestimmte „Tools“ – Werkzeuge, wie sie jedes Modell zur weiteren Zufuhr von Information zur Verfügung stellt –, sodass der/ die auf diese Weise Angesprochene sich in Bezug auf eine bestimmte Situation möglichst verändern kann, genauer: sodass er/sie selbst sich durch die Erfahrung mit alledem, was ihm/ihr an Informationen zugeführt wird, in seinem/ihrem Modell verändern kann. Er/sie soll so wieder in Bezug auf sein/ihr eigenes Leben handlungsfähig werden.

Das Buch soll Anregung und Reflexionsmöglichkeit sein, um mit Vorsicht an die so wichtige, herausfordernde aber auch äußerst interessante und bereichernde Arbeit mit Menschen in Not heranzugehen.

Dabei erschien es mir notwendig, Überlegungen und Ansätze in der Sprache von Theorien darzulegen, aber deren Erweiterung, Veränderung oder auch Verwerfung nach Überprüfung dem/der Leser/in zu überlassen. Die Literaturhinweise, die ich dazu gebe, betreffen die Werke, die ich kenne, aus denen ich gelernt habe und aus denen mir zu lernen wichtig erscheinen würde. Die Literatur ist aber überreich an Modellen und Ansätzen und kann in dieser Fülle niemals vollständig angeführt werden. Dieses Buch soll anregen, anhand der Begegnung mit Menschen überhaupt, nicht nur mit Klient/inn/en bzw. Patient/inn/en, das eigene Wissen zu überprüfen und nicht vorschnell Menschen in eigene Modelle einzupassen („X ist ein typischer Fall von …“).

Schließlich ist die Erfahrung der wichtigste und größte Lehrmeister für alle Erkenntnis und damit für alles mit Theorie unterlegte Geschriebene. Die Erfahrung so unvoreingenommen wie möglich zu sammeln ist wichtig. Dabei soll dieses Buch helfen und seine Brauchbarkeit erweisen.

Der hier dargelegte Stoff, den ich viele Jahre an den Universitäten Graz, Linz, Salzburg und Wien unterrichtet und den Student/inn/en vorgelegt habe, geht von der „Begegnung“ aus und von dem, was von ihr von jedem/jeder Helfer/in bzw. Hilfesuchenden zu erwarten ist.

Begegnung ist also immer Ausgangspunkt, um anderen und gleichzeitig auch sich selbst zu begegnen.

So ist eine Familie eine Gruppe einzelner hilfesuchender Menschen, die einander ununterbrochen begegnen, die eben „Familie“ sind. Ein psychotischer, unfreiwillig zur Behandlung aufgenommener Mensch ist jemand in einem besonderen Zustand, aber im Bestreben, sein Leben zu meistern, ist er auch einer, der begegnen will und Hilfe sucht, in welcher Ausdrucksform oder Funktion auch immer, auch dann, wenn diese Suche manchmal verrückt oder gar kriminell erscheint.

Daher soll auch die Seite des Helfers/der Helferin in der Begegnung zur Sprache kommen, der mit den gleichen Bedingungen ausgestattet, aber hoffentlich erfolgreicher im Umgang damit noch zusätzlich das „Fachwissen“ hat, das ihm/ihr ermöglichen soll, seine/ihre Aufgabe, nämlich zu begegnen, zu bewältigen.

1.2 In Erwartung der ersten Begegnung – Mein Erfahrungsvorwissen

Ich sitze in meiner Praxis15 und habe einen Termin. Ich erwarte einen Menschen, der sich angemeldet hat, von dem ich aber nichts weiß, außer dass er etwas von mir als Helfer will.

D. h.: Ich kann erwarten, dass er in irgendeiner Weise von mir Hilfe erwartet, so wie er sich Hilfe vorstellt. Was wird das sein? Das ist spannend, aber eigentlich auch beunruhigend. Was wird er von mir wollen, und wie wird er es vorbringen?

Ich weiß schon, dass er auf meine Frage, was ich für ihn tun kann oder was er braucht (auf welche Weise auch immer ich es formuliere, um seine Erwartungen an mich „in Erfahrung“ zu bringen), entweder mit einer Geschichte beginnen wird, einer Vorgeschichte eigentlich, oder mit dem Bericht über ein Symptom, das seit Längerem besteht, unter dem er immer noch leide, das sich aber verstärkt habe oder das er schon lange habe, ohne dass es ihn besonders gestört habe, das aber jetzt unerträglich geworden sei, oder dass es ganz plötzlich und unerwartet und unerklärlich aufgetreten sei.

Er könnte aber auch, was eher selten ist, mit einer klaren Formulierung kommen, was er sich von mir als Hilfe erwarte, besonders wenn es um Konflikte in Beziehungen geht, an denen er oder jemand, der ihm wichtig ist, leidet.

Er wird also entweder „nur“ ein Problem direkt als solches präsentieren oder sein Problem in Form eines Symptoms oder indirekt durch die Formulierung einer Erwartung in Bezug zu seiner Situation. Wie auch immer: Er wird ein Betroffener sein, der mit dieser seiner Situation nicht umgehen kann.

Bsp.:

Ein schon betagter Mann kommt wegen starker Herzbeschwerden zu mir und erzählt, dass er ein passionierter Segler im Mittelmeer sei und ihm das besondere Freude bereite. Seine Frau sei aber wegen ihres Alters immer mehr dagegen und wolle auch nicht mehr mitfahren, sodass er allein segeln müsse oder ihr zuliebe zu Hause bleibe. Seine Tochter, die Ärztin sei, mache sich Sorgen wegen seiner Herzbeschwerden, „verstehe“ ihn aber auch.

Was zeigt sich da? Da sind die Herzbeschwerden, der Wunsch, das Segeln nicht aufgeben zu müssen, die Sorge der Frau, die nicht mehr „mitmachen“ will. Das Dilemma zwischen Loyalität und der Sehnsucht, dass es wie früher sein sollte? Wie hängt das mit den Herzbeschwerden zusammen?

Um mit dieser Situation umgehen zu können, darf ich mich nicht, etwa durch Gefühle wie Mitleid für ihn, Verständnis für seine Frau oder den ärztlichen Standpunkt seiner Tochter, aus meiner „Helferbahn“ bringen lassen, sondern muss mich in erster Linie auf mein Wissen besinnen und auf meinen Standpunkt als Mitmensch und Helfer.

1.2.1 Was ist mein Wissen?

Ich weiß, dass er das, was er vorbringen und wofür er Hilfe suchen wird, auch in meiner Terminologie als Problem präsentieren wird: Er wird, so wird er es ausdrücken, ein Problem „haben“, also etwas „auf dem Herzen“, das er wie ein „Ding“ beschreibt, das ihn stört, belastet oder bedrückt und vor allem auf dem Weg durch sein Leben, so wie er es sich vorgestellt hat, behindert. Und er wird wollen, dass ich ihm helfe, dieses „Ding“ aus dem Weg zu räumen, denn es hat bewirkt, dass er auf seinem Weg in seine Zukunft irgendwo „hängengeblieben ist“, vielleicht von Anfang an, vielleicht erst seit längerer Zeit oder vielleicht erst seit Kurzem.

Wie immer sein Weg bisher war, es ist sein Weg gewesen, den er bisher gegangen ist, mit allen Absichten, Erfahrungen und Zielen und auch allen Wechselfällen und Zwischenfällen, die es dabei gegeben hat, die er aber entweder ohne oder mit irgendeiner anderen Hilfe bewältigt hat.

Wo er, was seinen Besuch bei mir betrifft, jetzt hängengeblieben ist, weiß ich noch nicht. Das muss ich erst im Gespräch mit ihm erkunden. Es kann in ihm liegen, an seinen Einstellungen und daran, wie er das Leben angeht, oder an anderen in seinem Lebensfeld, ja auch an gesellschaftlichen Umständen oder an allem zusammen, und es kann sich aus plötzlich eingetretenen Umständen oder allmählich sich ansammelnden Faktoren ergeben haben, die sich schon an früheren Problemen gezeigt haben, oder es ist erst jetzt manifest geworden. Ich weiß, dass seine Lebensbereiche nicht getrennt sind, sondern in ständiger Wechselbeziehung bzw. -wirkung stehen.

Ich weiß aber auch, dass er seinen Weg gehen will, dass er ihn gehen wollte, so gut er es verstand und weitergehen will, so gut er es versteht. Das ist das Bestreben seines – genauer: jedes – Lebens, denn das Bestreben seines – jedes – Lebens ist, einen möglichst gangbaren Weg zu gehen, ist doch das Leben selbst eine Vorwärtsbewegung, für die man – manchmal erst nachträglich – Sinn, Richtung und Ziele finden muss.

Aber wie immer der Weg bisher war, ist es überhaupt der, den er gehen wollte? Oder musste er ihn gehen? Musste er, weil etwas in ihm ihn mit aller Macht in diese Richtung drängte? Oder hat er sich auf diesen Weg drängen lassen: durch andere oder bestimmte Umstände in seinem engeren oder weiteren Lebensfeld? Und möchte er den Weg „eigentlich“ so fortsetzen, wie er bisher war, oder „eigentlich“ einen anderen Weg finden – „wirklich“ seinen Weg? Kann er sich das überhaupt vorstellen? Was war bisher für die Wahl des Weges bestimmend? Es kann sein, dass er seinen Weg, den, der seinem Wesen gemäß wäre, gar nicht kennt oder nur ahnt oder vielleicht nur heimlich davon träumt. Erlaubt er sich überhaupt von einem anderen, von seinem Weg zu träumen? Oder kommt er einfach „bewusstlos“ für einen anderen Weg, z. B. weil er körperlich krank ist, und hofft, wenn er „nur“ wieder gesund ist, seinen Weg wie bisher weitergehen zu können oder auch zu müssen.

Gerade bei Erkrankungen, die medizinisch definiert und bei jemandem bestätigt werden, wird die Krankheit zum vordergründig wahrnehmbaren Hindernis und es geht dabei gar nicht um die Frage eines anderen Weges, speziell wenn danach weder gefragt wird, noch Wissen darüber besteht, dass damit ein Heilfaktor eingeführt werden würde, sondern es geht nur um die Beseitigung der Krankheit, wie dies besonders bei von Krebs oder anderen lebensbedrohlichen oder behindernden Erkrankungen Betroffenen beobachtet werden kann, welche ihre Heilung in erster Linie oder ausschließlich aus der medizinischen Behandlung erwarten, um dann ihren bisherigen Weg fortzusetzen, oft auch weil sie glauben, ihn so fortsetzen zu müssen. Dabei wirkt das manchmal eher geringe Interesse der Behandler/innen an der Möglichkeit zu einem anderen Weg oder Mangel an Wissen darüber mit der Einstellung des Patienten/der Patientin zusammen.16 Gerade bei schweren Erkrankungen zeigt eine bewusste Veränderung der „Lebensführung“ erstaunliche positive Veränderungen, vor allem im Sinn der Heilung.

Bsp.:

Die an Brustkrebs erkrankte Frau S. war bis zu ihrer Erkrankung nicht nur bemüht, ihrem eher zwanghaften Mann eine gute Ehefrau zu sein, sondern war seit ihrer Kindheit eine sehr verantwortungsvolle Tochter. Als die Eltern in finanzielle Schwierigkeiten kamen, riefen sie alle ihre Kinder zusammen und forderten sie auf, Schulden in großer Höhe zu übernehmen. Als Frau S. sich nach den Modalitäten erkundigte, bekam sie nicht nur von den Eltern keine Auskunft, sondern wurde auch von ihren Geschwistern als Egoistin bezeichnet. Sie spricht davon, dass sie sich in dieser Situation wie „lebendig seziert“ vorkam, konnte die Situation aber nicht verlassen, da sie mit einem ihrer Brüder angereist war und sich von der Situation abhängig fühlte. Etwa zwei Monate danach brach die Brustkrebserkrankung aus. Frau S. war erfolgreich operiert worden und suchte von sich aus meine Hilfe. Als die Rede auf den Weg kommt, den sie bisher in ihrem Leben gegangen war und der sie auch in die Situation mit ihrer Familie geführt hatte, und sich die Frage nach einem anderen Weg stellt, den sie quasi im Spiel ausprobieren kann, merkt sie, dass sie sich ganz unsicher fühlt und schon beim ersten Schritt schwindlig wird. Erst allmählich wird der neue Weg gangbarer, wobei sie langsam lernt, die Nähe und Distanz zu ihrer Familie zu regulieren. Sie lernt den Appellen an ihre Loyalität zu widerstehen, auch wenn es sie und auch ihre Familie schmerzt. Aber so wie sie es durchhält, wird das Verhältnis zu ihren Eltern und Geschwistern besser und klarer und sie bleibt über die klinisch vorgesehene Beobachtungsfrist hinaus gesund und kann auch eine weitere äußerst schwierige Situation, die in ihrer Ehe aufgetreten ist und die letztlich zur Scheidung führt, mithilfe ihrer Familie gesund überstehen.

Wenn ich jetzt an den Weg selbst denke: War dieser Weg für diese Person insgesamt oder bis zu einem gewissen Zeitpunkt gut? War er wirklich gut nach meinem Dafürhalten? Was war daran nach meinem Wissen gut? Oder sah sie ihn selbst als gut an, obwohl er nach meinem Verständnis gar nicht gut war? Bahnte sich damit die Entstehung des Problems oder das Kranksein an? Hat sich vielleicht zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens etwas entwickelt, das sich ihr in ihren Weg gestellt hat, sie behindert hat und sie weiter und immer mehr behindert? Hat sie das beobachtet, verstanden?

Bsp.:

In einer Fernsehsendung, in der sich sehr oft ältere Heiratswillige vorstellen, erzählt ein Mann, dass er keine Zeit für seine Beziehung gehabt habe und erst jetzt Zeit habe, nachdem die erste Beziehung gescheitert ist. Das erstaune ihn nicht, denn er habe einen Betrieb aufbauen müssen. Jetzt, da es Nachfolger gebe und „alles laufe“, könne er sich einer Beziehung widmen und alles „nachholen“. Er wünsche sich eine zärtliche Frau, ein „Kuschelding“, denn er liebe das Anschmiegen. Es sei nicht wichtig, dass sie schlank ist. Von seiner Erscheinung her ist er ein kleiner, gedrungener 60-jähriger Mann, auch übergewichtig.

In einer folgenden Sendung erzählt er, dass er die passende Partnerin gefunden habe. Jetzt, da er diese Frau gefunden habe, sei er ganz glücklich und verliebt. Er fühle sich richtig belebt. Jetzt sei er damit beschäftigt, viele Möglichkeiten für Gemeinsamkeit zu planen. („Liebesg’schichten und Heiratssachen“, ORF 2)

Wenn wir wieder zu dem Mann mit seinen Herzbeschwerden zurückkehren:

Sind sie für ihn auf rätselhafte Weise gekommen und hat er versucht, herauszufinden, was das ist, warum es gekommen ist, und warum gerade „jetzt“? Was hat er schon alles versucht?

Was ich vermuten kann: Er hat wahrscheinlich andere gefragt, offen oder indirekt, um sich keine Blöße zu geben, hat möglicherweise auch andere Helfer/innen konsultiert, hat dabei vielleicht Erfahrungen gemacht, die nicht wirklich oder nur kurzfristig hilfreich waren. Kommt er deswegen jetzt zu mir? Wie hat er von mir erfahren? Wie hat er gerade mich ausgewählt? Und warum? Was erwartet er? Und: Was immer er will, wird er über sich sprechen? Oder über andere? Und wenn er über andere spricht, wird er sie beschuldigen, etwa wenn er das Verhalten anderer für sein Problem verantwortlich macht, z. B. seine/n Lebenspartner/in, Vorgesetze/n etc.? Oder wird er besorgt über andere reden, weil ihm die Sorge „Probleme macht“? Etwa so, als ob Eltern unerwartete beängstigende Veränderungen an einem Kind merken? Aber das weiß ich sicher: Was immer er vorbringen wird, er will Hindernisse dieser mächtigen und lebensbestimmenden Vorwärtsbewegung auf seinem Weg aus eigener Kraft aus dem Weg räumen.

Er möchte, dass ich ihm helfe, allerdings nur so, dass es für ihn annehmbar, plausibel ist, ja möglicherweise schon etwas ist, was er sich vielleicht auch schon gedacht hat, aber nicht zu denken oder zu tun wagte. Er wird mir aufmerksam zuhören, was immer ich frage oder sage, und wird es in Hinblick auf das, was er sich von mir erhofft, prüfen, ob er etwas zu hören bekommt, was er im Sinne seiner Erwartung brauchen könnte. Wenn das nicht kommt, wird er sich wahrscheinlich zurückziehen, innerlich oder körperlich, sodass man ihn wieder „zurückholen“ muss.

Und was ich auch sicher weiß:

Er will sein Leben so weit wie möglich in Gesundheit leben, will selbst darüber bestimmen können, wie es weitergehen wird. Er will vor sich selbst und „den anderen“, wer immer diese sind, dastehen als einer, der „was ist“ und „was kann“, und dafür respektiert sein. Mir ist klar, dass es darum sicher auch gehen wird, auch wenn er selbst nicht davon spricht oder es nur vage andeutet oder das so deutlich noch gar nicht zu denken gewagt hat. Und ich denke mir – und das gibt mir Sicherheit und Richtung: Er könnte einiges oder vieles davon oder „alles“ erreichen, was immer das ist, wenn er sich seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten und Grenzen bewusst wäre. Auf die Hinweise darauf muss ich achten und diese hervorheben, damit er allmählich wieder vorwärts schaut, und den, nein, seinen Weg sieht, auch wenn es gravierende Hindernisse gibt: gravierende Hindernisse im körperlichen, seelischen oder geistigen Bereich, die zu bedenken und zu berücksichtigen wären. D. h., auch die muss ich beurteilen. Sind sie so gravierend, wie sie für ihn oder für mich aussehen?

Welche Vorurteile bestehen bei mir? Kann ich wirklich sagen, wie groß solche Hindernisse sind, oder muss ich nicht vielmehr davon ausgehen, dass jedes Hindernis auch ein Ausdruck und auch Ergebnis des bisherigen Weges ist? Und muss ich, wenn ich ein Hindernis sehe, das sich ihm scheinbar wirklich unüberwindlich in den Weg stellt, mich selbst fragen, ob ich genügend Wissen darüber habe? Wie gehe ich mit Hindernissen auf meinem Weg um? Ist es nicht ein mich betreffender Mangel an Wissen, dass ich ein Hindernis als unüberwindlich ansehe? Oder finde ich mich damit ab, zu wissen, was er meint? Bin ich sogar froh, dass ich das annehmen kann, ohne es weiter hinterfragen zu müssen?17 Und eröffnet nicht jedes Hindernis auch neue Perspektiven? Gibt es nicht einen Weg mit Chancen?

Was ich auch sicher weiß: Was immer er an Tragischem vorbringt, an Klagen oder Anklagen, es werden sich Zeichen seiner Suche nach seinem Weg zeigen und Hinweise auf Fähigkeiten, ihn zu gehen, aber auch Hinweise darauf, dass manches dabei gelungen ist, wenn auch unscheinbar und durch den Zustand, in dem er jetzt kommt, um Hilfe in Anspruch zu nehmen, verdeckt, von ihm anscheinend vergessen. Sein Leben führt ihn zu mir und wird mich führen, ihm dabei zu helfen, „zu sich zu kommen“, zu seinem Weg, wie viel auch immer davon möglich sein wird. Auf diese Führung muss ich achten, und auf seine „Lebenszeichen“, denn von da kommt die Hilfe, die er sucht, die wirkliche Hilfe.

1.2.2 Ich kann eigentlich nur „Wegweiser“ sein

Das alles kann sein, wenn er kommt. Und ich? Ich bin sein Mitmensch – in erster Linie – und dann ein Spezialist für Hilfe und als solcher Autorität für ihn, ob ich will oder nicht, jedenfalls in seinen Augen und für sein Problem, wie er es nennt. Und ich muss dabei die Augen und mein Herz und mein „Bauchgefühl“ offenhalten, um möglichst nichts zu übersehen, zu überhören oder gefühlsmäßig zu übergehen. Das gelingt ohnehin nie so, wie ich möchte, aber es geht ausreichend, wie ich glaube. Diese Erfahrung habe ich schon gemacht, d. h., ich habe mit der Zeit gelernt, mir, was meine Einfühlung betrifft, zu vertrauen. Aber ich weiß auch, dass ich dabei auf mich achten muss: Ich will etwas für ihn tun, aber nur innerhalb bestimmter Grenzen, die ich einhalten muss. Nichts werde ich tun, was meine Kompetenz, aber auch meine Wertvorstellungen überfordern würde, meinen Respekt für Menschen, für ihn wie für die, die ich nicht kenne und von denen er nur spricht. Auch sie wollen ja ihren Weg gehen und haben dabei „ihre Probleme“ und wollen auch in Gesundheit ihren Weg gehen. Aber innerhalb der Grenzen, die ich für mich setzen will, soll er sich meiner Achtung sicher sein, meines Respekts für seinen Weg, und ich traue ihm viel zu, genauer gesagt eigentlich alles, auch wenn er noch nicht weiß, dass er es kann.

Während der Zeit, in der er mit mir spricht, werde ich ihn beobachten und merken, wie er mich und mein Rundherum – besonders in meinem Arbeitsraum – beobachtet. Wie er sich umsieht, prüft, wie seine Blicke wandern, dann an etwas hängen bleiben, was vielleicht für ihn von Bedeutung ist, d. h. für sein Leben oder für seine Situation oder für den Weg, den er gerne einschlagen würde oder gerne eingeschlagen hätte, oder auch was mich betrifft. Ich werde auch sein Mienenspiel beobachten, wenn er mit mir oder ich mit/zu ihm rede, und seine Körperhaltung und wann er sie ändert. Wie setzt er sich hin, in welcher Entfernung und auf welchen Stuhl? Kann er sitzen bleiben oder muss er zwischendurch aufstehen, vielleicht zwischendurch fragen, ob er rauchen darf? Und wenn ich Nein sage, weil ich das in meinen Arbeitsräumen nicht erlaube, wie wird er reagieren und zu welchem Zeitpunkt unseres Gesprächs hat er diesen Wunsch gehabt? All das ist Teil der Begegnung und Information für mich bzw. ihn, nämlich darüber, wie es weitergehen wird, und Ausdruck seines Wesens in seiner Situation, in der er jetzt und speziell mit mir ist. Mit mir? Ja, da spiele ich auch mit. Denn ich werde ihn ja beobachten. Welche Bilder weckt er bei mir, welche Erfahrungen mit Menschen, die sich so ähnlich verhalten, bewegen, dreinschauen? Welche Meinungen weckt er, wo ich „sicher“ weiß, wie und was er ist und was er „wirklich“ will? Kann ich mich diesem Zustrom von Informationen aus mir selbst entgegenstellen? Offen bleiben? Alles zurückstellen und mich bereit machen zu erfahren, dass alles „vielleicht ganz anders ist“, als ich glaube?

So wird dann, sobald er da ist, für uns beide eine besondere Wirklichkeit entstehen, in der alles spezielle Bedeutung hat. Das wird uns beide führen und wir werden sehen, ob wir diese Wirklichkeit so verändern können, dass er sie wieder mit einer – nämlich seiner – Perspektive auf seinen Weg verlassen kann.

1.2.3 Was weiß ich schon als Helfer?!

Was ich weiß und was mir das Gefühl gibt, ja mich „berechtigt“, helfen zu können, hat sich einerseits aus meinen Erfahrungen als Mensch mit mir selbst und mit anderen Menschen in den verschiedenen Konfigurationen ergeben und andererseits aus meiner Erfahrung als Therapeut, so wie ich Therapie über die Jahre zu verstehen gelernt habe, und ist in Vorstellungen und Konzepten organisiert und in Begriffen, die mir hilfreich erschienen sind, das, was ich erlebt und als Erfahrung gespeichert habe, sowie mich selbst in meiner Arbeit zu verstehen. Dies alles geschieht aber immer erst im Rückblick auf das Erlebte, d. h. im Rückblick auf das im Denken und Fühlen Wahrgenommene und auf meine Weise Verarbeitete. So entstehen Erfahrungen. Damit ich es mitteilen kann, wähle ich Begriffe, d. h., ich versuche mein Denken und Fühlen so in Einklang zu bringen, dass die Begriffe, die ich verwende, mir das Gefühl geben, mit ihnen als „Kürzel“ sagen zu können, was ich erlebt, besser: erfahren habe.18 Dazu kommt als nächster Schritt die Suche nach einem sinnvollen Rahmen, nach einem Konzept, das die Begriffe ordnet und schließlich zu einer Theorie zusammenführt, die mit dem Erlebten möglichst übereinstimmt, es erklärt und im Umgang damit anwendbar macht. Dazu habe ich zu mir passende Konzepte und Theorien vorgefunden, die sich aus den Erfahrungen anderer ergeben haben und von diesen bearbeitet worden sind und die ich aufgrund meiner Erfahrungen prüfe und gegebenenfalls überarbeite, damit sich daraus eine Theorie aus meinem Blickwinkel ergibt.

Das ergibt eine mehrfache Überarbeitung meines Erlebens, die dies alles nur informationsreduziert mitteilen kann. Da ich mich all diesen Überarbeitungen nicht entziehen kann, wenn ich mich mitteilen will, muss ich davon ausgehen, dass alle Begriffe, meine und die anderer, Teil und Ausdruck dieser Überarbeitungen sind, wie das bei denen, die die für mich brauchbaren Begriffe geprägt haben, auch ist, und, was mich betrifft, müsste ich viel erzählen und kann bei Weitem nicht alles erzählen, was ich wirklich erlebt habe, auch weil ich dafür wahrscheinlich nicht alle Worte finden würde.

Das heißt aber für mich, dass neue Erfahrungen mit den bisherigen Begriffen nicht mehr übereinstimmen müssen und es wieder notwendig sein wird, nach neuen Begriffen zu suchen, mit allem, was danach von mir an Überarbeitung folgt, auch damit ich mir selbst treu bleibe und dafür doch irgendwie Zeuge sein kann. So werde ich wieder zum „Präger“ von Begriffen, zusätzlich zu den Begriffen, die von anderen geprägt wurden. Auf diese Entwicklung meines Wissens muss ich vorbereitet bleiben.

Ich kann mich also nur so und mit meinen Erfahrungen als Zeuge für mein Wissen mitteilen. Was ich im Folgenden mit-zu-teilen versuche, wird diese Form haben und jede/r Leser/in wird für sich zu überprüfen haben, ob er/sie mit den Begriffen, Konzepten und Theorien und den Beispielen, die ich anführe, etwas anfangen kann.

1.3 La condition humaine19

images

Abbildung 1: Netzwerk und Systeme – Systeme im Netzwerk

1.3.1 Wir Menschen sind Teil des Universums

Das bedeutet, dass wir in einem anscheinend grenzenlosen Einflussfeld leben, dessen Elemente aus unserer Sicht „ihren Platz haben“ und sich aus unserer Perspektive innerhalb dieser „Ordnung“ bewegen. Diese „Ordnung“ erscheint uns relativ stabil und ist offenbar energetisch bedingt, d. h. durch fortdauernde energetische Wechselwirkungen, die auch unseren Planeten treffen. Dass es manchmal Störungen gibt, beunruhigt uns meist nicht sehr, sodass – und solange – wir uns in diesem Einflussfeld sicher fühlen. Wir suchen die Wirkungen des Einflussfelds zu erfassen, um unser Schicksal zu verstehen und womöglich vorherzusehen. Wir sind diesem Feld ausgesetzt und müssen es ertragen und jedenfalls so damit umgehen, dass wir darin leben und überleben können. Das zu verstehen, haben sich viele Philosophen/innen und Wissenschaftler/innen bemüht, und so gibt es von beiden Seiten Theorien, die sich auch zu Weltbildern entwickelt haben, die manchmal Glaubens- oder sogar Religionscharakter angenommen haben – alles um die Unsicherheit dieser schier unendlichen energetischen Einflusssphäre zu bannen und dadurch Entscheidungsgrundlagen für Lebensqualität zu schaffen. Dieses Feld schafft aber auch eine Tatsache, die wir manchmal „mahnend“ aufrufen, die uns aber gleichzeitig damit konfrontiert, dass wir als Menschen untereinander und mit allem in diesem Feld dynamisch verbunden sind, nämlich: Was immer wir tun und was an uns getan wird, hat Auswirkungen.

Auf dieser dynamischen Verbundenheit beruhen unsere Beziehungen, sichtbar zu erkennen besonders an guten Beziehungen, für die wir Energie aufwenden, um sie aufrechtzuerhalten, nicht so leicht zu erkennen an schlechten Beziehungen, für die wir Energie aufwenden, um sie zu ertragen oder sie vermeiden zu können (s. dazu auch McTaggard, 2017).

Eine wichtige Folge dieser Verbundenheit ist, dass wir ängstlich darauf bedacht sind, unsere Identität und Eigenständigkeit zu erhalten. Diese Eigenständigkeit wollen wir als Einzelpersonen, als Familien, als Gesellschaft, als Volk, als Nationen erhalten und damit die Illusion, dass wir nicht so sehr verbunden sind. Diese Gegenbewegung zur Verbundenheit dient der Entwicklung und Erhaltung einer Identität, die sich dabei entwickelt. Denn bei aller Verbundenheit zeigen wir uns auch verschieden. Daraus ergibt sich das Dilemma zwischen unentrinnbarem Verbundensein und dem Anderssein als die anderen, das bei Entscheidungen aufgerufen wird und oft genug auch im Weg steht oder zu katastrophalen Lösungen führt, z. B. wenn zwei Menschen, die sich anfänglich freiwillig verbunden haben, sich so anders als der andere fühlen, dass die Trennung unausweichlich scheint und die ehemalige Verbundenheit in der Zeit der „Trennungskrise“ unter dem Aspekt „Wir sind ein Herz und eine Seele gewesen“ außer Acht gelassen wird. Was sich zwischen zwei Menschen abspielt, kann auch zwischen Gruppen, Vereinen, Städten und Nationen eintreten, zu Rivalitäten,20 Kämpfen und bis hin zum Krieg führen, dem die Menschen früher besonders willig gefolgt sind, etwa als es im Ersten Weltkrieg hieß: „Jeder Schuss ein Russ“, „Jeder Stoß ein Franzos“ (Kraus, 1975).

Derzeit erleben Menschen ihre Identität und ihren Selbstwert darin ganz besonders durch Gelegenheiten zum Gewinn von Macht, finanziell durch Reichtum oder durch ihre Leistung oder, wenn nicht anders möglich, durch kriminelles Handeln und Gewalttätigkeit. Erst durch das Bewusstsein für die Katastrophen, die in unseren persönlichen und politischen Situationen jetzt oder „von Natur aus“ eintreten können, wird allmählich zunehmend der Wunsch nach Verbundenheit und auch das Bestreben nach „Solidarität“ aktiv. Und nach vielen bedrohlichen Situationen wird der Versuch zu deren Vorbeugung unternommen (siehe die Entwicklung der Europäischen Union in der Flüchtlingskrise)21, ohne dass das Trennende ganz aufgehoben werden kann oder auch muss. Auch das findet sich zwischen zwei Menschen oder Familien oder Freund/inn/en, weil der Gewinn aus der energetischen Verbundenheit, auf welcher Ebene auch immer, wenn sie gelingt, das Dilemma zwischen Verbundensein und „Anderssein als die anderen“ mit Toleranz zu betrachten, größer ist als der nur vermeintliche Verlust der Identität. Aber es muss auch hier „das Maß“ an Verträglichkeit gewahrt sein. Es ist das Dilemma zwischen „Ich“ und „Wir“. Dieses Dilemma muss immer wieder gelöst werden.

In den vielen Familiengeschichten, die ich zu lesen und zu beurteilen hatte und immer noch habe, die oft Streit und Zwietracht oder auch Krankheit und Sucht beschreiben, ist sehr, sehr oft das Resümee: „Wenn einer von uns in Not ist, halten wir zusammen.“

Da ist sie wieder – ganz erstaunlich: die Verbundenheit. Aber solange Menschen sich von anderen getrennt fühlen oder auch getrennt fühlen wollen, oder auch solange sie es sich leisten können und es andere nicht zu sehr stört, erlauben sie sich jede Demonstration ihres Andersseins bis zur Groteske. Die Verantwortung für den anderen, die sich aus der Verbundenheit notwendigerweise ergibt, geht verloren – bis hin zu Skrupellosigkeit und Grausamkeit. Dies kann auch durch Notlagen eintreten, in denen die Wahrnehmung der Verbundenheit aus Angst um die eigene Existenz, aber auch vor einem eigenen Nachteil bis hin zur Gewinnsucht verloren geht („Mein Hemd ist mir näher als der Rock.“). Verbundenheit kann bedrohlich sein für die eigene Existenz.

So unausweichlich das Dilemma zwischen Verbundenheit und Wahrung und Betonung der eigenen Identität ist und so groß auch die Ambivalenz ist, die darin lauert, so ist sie, wenn man sich der Vor- und Nachteile der zwei Seiten bewusst ist, doch die einzige vorhandene Lösungsquelle, je größer die Krise für die Beteiligten ist, wenn sie nicht „vernichtet“ werden wollen.

Übrigens besteht zu Tieren und Pflanzen am wenigsten Angst vor der Verbundenheit, wohl weil sie deutlich anders als wir sind und wir sie zum Unterstützen unserer individuellen Befindlichkeit verwenden können. Deren Anderssein bzw. das Verbunden-Fühlen und Kennenlernen der Eigenart, die ganz anders ist als die menschliche, erlaubt eine besondere Qualität der Verbundenheit, besonders dann, wenn sie kontrollierbar ist, wahrscheinlich, weil die Andersartigkeit die eigene Identität nicht gefährdet.

1.3.2 Die energetische Verbundenheit und ihre Auswirkung

„Das Feld ist unsere einzige Wirklichkeit.“ (Albert Einstein, zitiert n. McTaggart, 2008, S. 10)

Das Universum ist ein Quantenfeld. Es enthält alle Elemente, die schon erforscht sind, und auch die, die noch nicht entdeckt, identifiziert und erforscht worden sind (z. B. dunkle Energie und nicht materielle Materie) sowie Raumenergie (Energien verschiedener Art).22

Es ist das Feld, in das wir „eintreten“, in dem wir leben, uns entwickeln und sterben.

Das bedeutet, dass wir mit unserem Leben in ein Feld eintreten, aus dessen Wechselwirkungen wir gezeugt wurden, das uns geprägt hat und in dem wir, sobald wir existieren, unser Leben entwickeln und dadurch weiter über unseren Tod hinaus wirken. D. h., wir kommen aus einer für uns praktisch unübersehbaren Vergangenheit, existieren in jedem Augenblick in einer unübersehbaren Gegenwart und gehen vorwärts bis zu unserem Tod, aber wirken auch – auch unabsehbar – darüber hinaus in eine nicht absehbare Zukunft.

Das Feld, in das wir eintreten, enthält unzählige verschiedene Elemente. Daraus ergeben sich viele Einflüsse auf jedes einzelne Element, d. h., das Feld ist dadurch ein Universum-weites Einflussgebiet auf jedes einzelne Element. So jedenfalls würden wir Menschen als spezielle lebende Elemente es mit unseren Mitteln beschreiben, weil wir es so wahrnehmen können, denn wir können das Feld nur aus unserer Sicht und immer mithilfe der durch unser Wissen beschränkten Perspektive, am ehesten durch Modelle beschreiben.

Wir können in diesem Feld folgende Elemente_ genauer unterscheiden: Die erste Unterscheidung, die wir treffen müssen, ist die in materielle und nicht materielle Elemente.

Die materiellen Elemente umfassen

lebende materielle Elemente

unbelebte materielle Elemente

Die nicht materiellen Elemente umfassen

Elemente, die uns geformt und fassbar erscheinen, sodass wir ihnen Namen geben können, z. B. Sprache, Information, Energie.

Elemente, die uns (noch) ungeformt erscheinen und durch ihre Wirkung fassbar sind, sodass wir bestrebt sind, Bezeichnungen für sie zu finden. Das Bestreben sie benennen zu können hilft uns, sie in unsere Realität „einordnen“ zu können, und nimmt uns die Angst, sie nicht beherrschen zu können. Sobald wir für ein Phänomen einen Namen haben, fühlen wir uns etwas sicherer.23

Wenn es um unbekannte Teilchen geht, die sich im Teilchenbeschleuniger im Rahmen des CERN-Projekts zeigen, werden sehr schnell Namen gefunden, sodass sie handhabbar werden. Ein merkwürdiger Name ist z. B. „Gottesteilchen“, weil es etwas mit der Entstehung von Materie zu tun haben könnte.

Nicht materielle Elemente, sowohl die benennbaren als auch die nicht benennbaren, sind nur durch ihre Wirkung auf uns, d. h. unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten, fassbar.

Lebende Elemente sind materielle Elemente, haben einen Lebenszyklus und wirken durch ihre Existenz als solche und durch ihre Entwicklung aktiv auf alle Elemente, d. h. auch auf ihresgleichen ein, die diesen Lebenszyklus betreffen und ihn ermöglichen oder gefährden können, und reagieren in dieser Weise auch aktiv auf den Einfluss anderer Elemente, lebend, unbelebt oder immateriell, indem sie trachten, die verschiedenen Einflüsse im Hinblick auf ihre Wirkung auf ihren Lebenszyklus auf Zuträglichkeit oder Abträglichkeit zu bewerten.

Unbelebte Elemente haben keinen Lebenszyklus, reagieren auf die Einwirkung lebender, unbelebter oder immaterieller Elemente durch Veränderung ihrer Form, Oberfläche und Struktur und wirken dadurch auf sie zurück, wirken aber selbst nicht aktiv auf sie ein.

Dazu gehören z. B. Elemente, die sich durch die Einflüsse – also Wirkungen – in der Zeit verändern, d. h. altern können oder sich durch äußere Einflüsse verändern, d. h., sich z. B. in ihrer Struktur verändern. Immaterielle Elemente wirken auf alle Elemente, d. h. auch auf andere immaterielle Elemente, und wirken durch die Veränderungen, die sie auslösen, auch auf sich selbst zurück.

Dazu gehören physikalische Elemente und vor allem Energie in ihren verschiedenen benannten Erscheinungsformen, besonders in Form von Informationen.

Ob es belebte immaterielle Elemente gibt, die auch auf verschiedene Elemente wirken können, ist eine wichtige Frage. Viele Menschen berichten z. B., dass ihnen Verstorbene erscheinen, z. B. Hilfe anbieten oder auch um Vergebung bitten für das, was sie jemandem angetan haben, oder manchmal rettend eingreifen. Dies sind durchaus glaubhafte Berichte über tatsächliche Begegnungen.

Bsp.:

Eine ältere Frau hat ihre Tochter plötzlich durch eine Krebserkrankung verloren. Diese Tochter war verheiratet und hatte zwei Kinder, für die die Großmutter tagsüber sorgte. Sie erzählt, dass sie etwas erlebt habe, wofür ihr Mann sie sicher für verrückt halten würde. Eines Tages kamen die beiden Kinder auf sie zu und baten sie um Hilfe bei ihrer Hausaufgabe. Plötzlich sei eine merkwürdige Atmosphäre im Raum entstanden, der Hund habe zu bellen begonnen. Dies dauerte eine Weile, dann sei plötzlich alles wieder „normal“ gewesen. Als die Großmutter sich den Kindern zuwandte und ihnen Hilfe bei den Aufgaben anbot, sagten diese, es sei nicht mehr notwendig, ihre Mutter sei da gewesen und habe ihnen geholfen.

Durch die energetische Verbundenheit aller Elemente in diesem Feld zu jedem Zeitpunkt ist es ein Feld latenter Möglichkeiten und wird daher auch als Matrix bezeichnet, d. h. als Mutterboden aller Erscheinungen, Zustände, Wechselfälle. Welche davon von wem oder wodurch realisiert werden, hängt von der Wirkung des Gesamtfelds ab, d. h. von allem im Feld Verbundenen und daran Beteiligten, kurz vom Universum, auch wenn es für „praktische Zwecke“ ausgeblendet wird oder aus praktischen Gründen auch werden muss. Da dieses Feld in ständiger Bewegung begriffen ist, produziert es auch ständig für uns oft unvorhersehbare Veränderungen. Daher reicht die Auswirkung der Verbundenheit in jeden Teil dieses Universums hinein und realisiert „Unvermutetes“ (aus unserer Sicht nennen wir dies Gelegenheiten, Zufälle, Hindernisse, Unglücksfälle etc., und vor allem „Wunder“)24, wenn wir uns mit Vermutungen25 über die „Bedingungen“, „Ursachen“ und „Auslöser“ etc. behelfen, um die Stabilität unseres Lebens in diesem dynamischen Feld bis hin zu der unserer Erde oder des ganzen Universums zu verstehen. Es sind die Medien – und besonders einleuchtend, weil schriftlich festgehalten, die Zeitungen –, welche die Dynamik von Tag zu Tag widerspiegeln, indem sie Ereignisse „festhalten“ und über ihre Auswirkungen und Auswirkungen der Auswirkungen usw. berichten.

1.4 Die Entstehung von Ereignissen

Bsp. 1:

Am 25.1.2010 brach in einem Ort in Bayern ein Felsbrocken ab, stürzte auf ein Haus und tötete zwei Personen, nämlich Vater und Tochter einer Familie, während Mutter und Sohn schwer verletzt überlebten.

Allein der Versuch, die Verursachung dieses Ereignisses zu verstehen, zeigt die Schwierigkeit. Was trug alles zum Absturz des Felsens bei? Einfache Annahmen wären: War der Felsen so sehr gelockert, dass er abstürzen konnte? Was hatte ihn bisher gehalten und hielt ihn zu einem bestimmten Zeitpunkt, einer bestimmten Uhrzeit, nicht mehr? Warum gerade jetzt? Welche Wettersituation begünstigte seinen Absturz zu diesem Zeitpunkt? Warum nahm er gerade diesen Weg auf das Haus zu? Was begünstigte den Einsturz des Hauses?

Was bestimmte, dass Vater und Tochter sich genau zu diesem Zeitpunkt dort aufhielten, wo sie erschlagen wurden, und was, dass Mutter und Sohn gerade dort waren, wo sie schwer verletzt überleben konnten?

14 Tage später fand sich folgende Meldung in einer Zeitung:

„Jetzt stellte sich heraus: Schon vor Jahren hätte ein Fangnetz installiert werden sollen. Der Denkmalschutz lehnte dies aber ab, sagte der Bürgermeister. Der angrenzenden Schlossbrauerei wurde ein Fangnetz ebenfalls nicht gewährt. Begründung: ‚Schutz der Bergdohlen und Fledermäuse’.“ (Süddeutsche Zeitung, 26.1.2010)

War dies wirklich ausschlaggebend oder ist es nur unsere Suche nach Kausalität?

Es ist eine Fülle von energetisch gesteuerten Prozessen, die zu dem dramatischen Ergebnis führten.

Am 25.1.2011 schrieb die Zeitung:

„Es geht um den Verdacht der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung: Ein Jahr nach dem verheerenden Felssturz mit zwei Toten in Stein an der Traun ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen einen Mitarbeiter einer Fachfirma. Der Traunsteiner Oberstaatsanwalt Günther Hammerdinger bestätigte am Dienstag einen entsprechenden Bericht der ‚Süddeutschen Zeitung’. Demnach habe es bereits seit langem Warnsignale für das Unglück gegeben. Der Staatsanwaltschaft zufolge hatte das Unternehmen in den Jahren 2007 und 2008 Sicherungsarbeiten an der Felswand direkt neben dem später zerstörten Haus durchgeführt. Aus einem Gutachten der Technischen Universität München gehe hervor, dass die Felswand erkennbare Risse im Gebäude verursacht habe. Die Mitarbeiter der Firma hätten deshalb die Gefahr eines Felssturzes hinter dem Nachbarhaus bemerken müssen, so der Vorwurf. Am 25. Januar 2010 war am Abend der tonnenschwere Felsbrocken aus einer Felswand auf ein Einfamilienhaus gestürzt. Ein 45-jähriger Mann und seine 18 Jahre alte Tochter waren dabei ums Leben gekommen. Die 40 Jahre alte Mutter und der 16-jährige Sohn hatten schwer verletzt überlebt.“

Bsp. 2:

Die Astronom/inn/en beobachten Asteroiden auch in der Sorge, ob einer sich in bedrohlicher Weise der Erde nähert. Die Sorge ist berechtigt. Aber was hält einen Asteroiden auf einer Bahn, die für die Erde ungefährlich ist, und was könnte eine plötzliche gefährliche Abweichung verursachen? Und was könnte eine solche Abweichung verhindern?

Wir, wenn wir diese Ereignisse wahrnehmen und „fest-“stellen, halten für uns die Bewegung an, aber nur scheinbar, denn sie geht weiter, und unser „Fest-“Stellen ist ein weiteres Ereignis in dieser Bewegung, das uns als unsere „Realität“ erscheint.

Bsp. 3:

Am 24.3.2015 stürzte ein Airbus von Germanwings mit 149 Passagier/inn/en in den südfranzösischen Alpen ab. Die Maschine sollte von Barcelona nach Düsseldorf fliegen. Es gab keine Überlebenden und es gab auch keinen Hinweis auf die Ursache, vor allem nicht auf einen Terroranschlag. Aus den Aufzeichnungen des Stimmenrecorders war zu entnehmen, dass der Flugkapitän, der wegen des schon leicht verspäteten Abflugs in Barcelona nicht mehr dazu kam, die Toilette aufzusuchen, dies nun im Flugzeug tun musste und nach Erreichen der richtigen Flughöhe und nach Gespräch mit dem Co-Piloten diesem die Kontrolle übergab und das Cockpit verließ. Eine Minute nachdem er sich entfernt hatte, wurde die Maschine zunächst unerklärlicherweise auf Sinkflug geschaltet, was letztlich zum Aufprall auf die Felsen dieses Gebirges führte.

Als der Kapitän zurückkehrte, wollte er zurück in das Cockpit. Der Co-Pilot öffnete aber nicht, auch als der Kapitän mit aller Macht auf die Türe klopfte, weil er den Sinkflug bemerkte, und es schließlich mit Gewalt an der Türe versuchte. Seit den Terroranschlägen des 11. September waren aber die Cockpittüren verstärkt worden, sodass auch ein Versuch, mit Gewalt mithilfe einer Hacke den Zugang zu verschaffen, misslang, weil alle Versuche, Zutritt zu bekommen, vom Co-Piloten verhindert wurden.

Unmittelbar nach dem für den Chef von Germanwings unerklärlichen Absturz versicherte dieser bei der ersten Pressekonferenz, dass die Piloten des zur Lufthansa gehörigen Unternehmens, was ihre Ausbildung betrifft, die besten der Welt seien und auch ihre körperliche und seelische Gesundheit kontrolliert werde und daher außer Frage stehe. Dies treffe auch auf den Co-Piloten zu. Dieser habe einige Jahre vorher seine Ausbildung auf einige Monate unterbrechen müssen, sei aber dann, wie die Untersuchungen erbrachten, voll flugtauglich gewesen. Der französische Staatsanwalt, der den Absturz untersucht hatte, hatte aufgrund des Stimmenrecorders festgestellt, dass der Co-Pilot den Sinkflug willkürlich eingeleitet haben musste.

Auf die Fragen der Journalist/inn/en nach dem Grund der Unterbrechung dürfe er aber gesetzlich nichts sagen.

Alle, die den Co-Piloten kannten, beschrieben ihn als freundlich und eigentlich unauffällig und konnten der Aussage des französischen Staatsanwalts nicht glauben. Recherchen der Medien ergaben, dass er unter Depressionen mit Selbstmordgedanken gelitten hatte und deswegen in Krankenhausbehandlung gewesen war, dass er einer Freundin gegenüber geäußert hatte, dass er einmal etwas tun werde, was „das System verändern werde“. Er hatte in diesem Zusammenhang auch Germanwings eine Mitteilung über seine Depressionen gemacht. Er war am Flugtag oder kurz davor vom Arzt krankgeschrieben worden, hatte die Krankschreibung zerrissen und beim Flugantritt nichts davon gesagt. Er hatte in den Tagen vorher im Internet nach Selbstmordmethoden recherchiert und wollte mehr über das Versperren von Cockpittüren wissen. Er benützte den Dauerverschluss der Cockpittüre, um den Zutritt des Kapitäns zu verhindern, zu dem er vor dessen Verlassen des Cockpits gesagt hatte: „Du kannst jetzt gehen.“ Danach verschloss er die Türe und stellte den Sinkflug mit zunehmender Geschwindigkeit ein.

Welche Fülle von energetischen Bewegungen, die sich schließlich zu dieser Katastrophe kombiniert hatten! Es gab keine erhofften Sicherheiten, die das Unglück hätten verhindern sollen, bzw. waren diese durch andere energetische Verbindungen außer Kraft gesetzt worden.

Hier sind nur die wichtigsten Bewegungen in Richtung Absturz:

Die Erkrankung des Co-Piloten, die er früher an die Lufthansa gemeldet, aber nicht an Germanwings weitergemeldet hatte

Die aktuelle Depression und das Nichtmitteilen der Krankschreibung an Germanwings

Die vorbereitenden Recherchen des Co-Piloten nach Selbstmordmöglichkeiten und Schließmöglichkeiten der Cockpittüren für die Entscheidung zum Selbstmord

Die Verspätung am Flughafen

Die Verspätung des Toilettengangs des Kapitäns

Sein Vertrauen und die Kommandoübergabe, um auf die Toilette gehen zu können

Dazu kommen die schon lange zurückliegenden Ideen, etwas Großes zu machen, und was es sonst noch an Bewegungen gab, welche das Vorhaben zum Selbstmord reifen ließen.

Diese Beispiele zeigen die Möglichkeiten einer unglücklichen Verknüpfung von Faktoren mit dem Wechselspiel von Energien, die auf bestimmte Elemente zu einem bestimmten Zeitpunkt einwirken, dadurch weitere Wirkungen auslösen, durch diese Wirkungskette ein Ereignis schaffen, das dann, soweit fassbar, beschrieben werden kann. An diesen Verkettungen sind sowohl äußere Faktoren als auch innerseelische Faktoren wie Gedanken, Träume, Stimmungen etc. beteiligt. Allerdings ist der wahre Beginn nicht fassbar, aber durch seine Wirkung auf die Welt führte er zu einem Ergebnis, das wir, um es in Bezug zu uns und zur Welt zu erfassen, „unglücklich“ nennen und als solches zur Kenntnis nehmen müssen, vor allem mit dem, was aus ihm weiterwirkt.

Bei unglücklichen Verknüpfungen stellen wir regelmäßig die Frage: Wer oder was ist schuld?

Ebenso gibt es glückliche Verkettungen und Wechselspiele von Energien, deren Wirkung willkommen geheißen wird, und wir nennen oder erfinden glückspendende Umstände oder Mächte.

Einen Überblick über diese energetischen Bewegungen werden wir wohl nie gewinnen, aber daraus ergibt sich das, was wir unsere Realität nennen.

Das Wissen, wie Ereignisse entstehen, veranlasst Menschen bewusst oder unbewusst „Anstöße“ zu geben, etwa als Einladung unter Zuhilfenahme eines „Anlasses“, der „der Beginn“ des Ereignisses ist, oder aber auch durch Streuen von Nachrichten, besonders „Gerüchten“, um bestimmte Absichten zu verwirklichen, wobei die Folgen immer unabsehbar sind.26 Aber auch das Prägen des jetzt gängigen Begriffs „Fake News“ hat großen Einfluss auf Bewegungen und schafft Geschehnisse, die die Welt beeinflussen.

Dennoch können wir uns fragen, wie wir mit dem, was bei beiden Hauptarten von Erfahrungen – „glücklich“ bzw. „unglücklich“ – herauskommt, am besten umgehen können, oder, anders ausgedrückt, „was wir daraus lernen können“, und das ist wieder ein Anstoß zu Ereignissen. Dies ist besonders für Menschen wichtig, die sich als „vom Schicksal geschlagen“ oder als „Pechvögel“ sehen.

Durch das „Fest-“Stellen und die durch diesen „Anstoß“ sich ergebende Dynamik mit ihren Folgeereignissen wird nämlich die daraus entstehende Realität zur „Lebenserfahrung“, die wir „fest-“stellen und auf die wir uns in unserem Denken und Handeln beziehen (siehe Ich-Haus, S. 166). Wir beginnen zu erwarten, dass es „wieder so werden wird“. Diese Erwartung ist aber durch die ständige Bewegung des Feldes eine Illusion. Oft wird an der unglücklichen Erfahrung festgehalten und eine glücklichere Variante übersehen.

Wir stellen immer wieder Ereignisse und Umstände und auch Muster „fest“, die damit im Zusammenhang stehen. So schaffen wir uns aber auch die Möglichkeit, die Muster27 und Umstände von Ereignissen zu untersuchen, so weit unsere Kenntnisse reichen. Wir gewinnen so ein Bild einer bestimmten Realität, die sich dann auch als „geordnete und deshalb verständliche“ Biografie beschreiben lässt.

Aber irgendwann behelfen wir uns mit dem Begriff „Zufall“, dem wir, je nachdem, was es für uns bedeutet, das Attribut „glücklich“ oder „unglücklich“ hinzufügen.

Da wir Teil dieser Verbundenheit sind, reicht das Quantenfeld (wie in den beiden ausführlich beschriebenen Fällen) auch in uns hinein, bewegt unseren gesamten Organismus, speziell die „Seele“, wie wir unsere Selbstwahrnehmungs- und „Handlungsmöglichkeiten-Instanz“ des Gehirns – so weit wir sie überblicken – nennen. Das entscheidet und äußert sich dann z. B. als Gesundheit oder Krankheit, bei Letzterer in bestimmten, „Symptomen“ genannten Zeichen.

Bsp.:

Welches Bild hat im oben angeführten 3. Beispiel der Pilot von seinem Leben gehabt, dass er sich so entschieden hat, wie er es unglücklicherweise getan hat? Wie wäre es gewesen, wenn er zu diesem Zeitpunkt ein anderes Bild gehabt hätte? Wie ging es dem Arzt, der die Krankschreibung gemacht hat, und mit wie viel Nachdruck hat er sie dem Piloten übergeben? Usw.

Und können wir das tatsächlich alles erfassen? Wir werden aber immer wieder auch bei schweren, lebensbedrohlichen Erkrankungen auf Heilungen hingewiesen. „Wunderheilungen“, sagen wir. Sind diese etwa nicht durch die Bewegung im Quantenfeld begründet, möglicherweise auch durch eine Bewegung, an der wir dadurch mitwirken, dass wir neue Ereignisse, die sich ergeben haben, anders wahrnehmen oder diese sogar schaffen? Und eine weitere Frage ist dann: Wie viel müssen Menschen mindestens wissen, um „wirklich“ zu verstehen, „was ihnen fehlt“, oder um möglichst selbst Heilung bewirken zu können? Dies ist besonders für Helfer/innen wichtig.

1.5 Die Auswirkung des Quantenfelds auf menschliche Beziehungen

Zusammengefasst heißt das: Wir sind im Quantenfeld mit uns selbst und mit der Umwelt mit all den Elementen, die sie enthält, verbunden. Wie sehr, erfassen wir meistens mehr oder weniger weitreichend, aber nicht vollständig. Es sind Ereignisse, die uns oft erst aufmerksam machen. So sehr dieses Feld in ständiger Bewegung ist, es ist gleichzeitig unsere Realität und somit Erfahrungsfeld und Lernfeld.

Indem wir damit Erfahrungen machen, d. h. sie wahrnehmen und reflektieren, versuchen wir für uns die Bewegung anzuhalten, während die Bewegung weitergeht. Allerdings, worauf sich unsere Aufmerksamkeit richtet, d. h. was wir im Feld in der Zeit beobachten, was wir daraus schließen und was wir schließlich tun, z. B. indem wir unsere Sichtweise ändern und durch „Interventionen“ neue Ereignisse schaffen, ermöglicht uns eine andere Sichtweise der Realität.

Bsp.:

Eine ältere verwitwete Frau, die schon durch ihren verstorbenen Mann verunsichert war, eigene Initiativen zu entwickeln, klagt über ihre Einsamkeit. Sie versuche mit ihren Kindern zu reden, aber diese hätten eigene Probleme, sie wolle sie nicht mit ihren Problemen stören. Sie merke auch, dass die Kinder, wenn es ihr nicht gut gehe, darüber ungehalten seien. Klavierspielen sei etwas, was sie immer noch gern mache, und sie nehme auch bei einem Klavierlehrer Stunden. Sie habe einen Bekannten getroffen, der Musiker ist, und ihm von ihrem Klavierlehrer erzählt. Der Bekannte habe große Freude gezeigt, als er den Namen des Klavierlehrers hörte. Als ich meine, das sei ja eine Gelegenheit gemeinsam Musik zu machen, sagt sie erleichtert, dass das wirklich eine Möglichkeit für sie wäre. Warum auch nicht?! Als sie mich wieder verlässt, ist sie ganz positiv gestimmt und sagt stolz, sie habe die Taschentücher, die sie sonst vorsorglich zum Weinen mitgebracht hatte, heute gar nicht verwendet. Bei einem zufälligen Kontakt mit ihr vor einigen Wochen zeigt sie sich unternehmungslustig und engagiert in ihren Möglichkeiten. Das Klavierspiel ist ihr sehr wichtig.

Bsp.:

Ein Schüler mit Behinderung der Feinmotorik seiner Hände konnte schlecht zeichnen und war daher nicht in der Lage im Unterricht, dort, wo diese Fähigkeit wichtig war, mitzuhalten. Sobald das eintrat, begann er im Unterricht Unruhe zu stiften und da Zurechtweisungen und Strafen nicht halfen, wurde er der Schulpsychologin vorgestellt. Als diese die Behinderung erkannte, begann sie ihn zu ermutigen und ihm viel Anerkennung zu geben für das, was er schaffte. Dadurch wurde seine Unruhe durch Versagen verhindert, gleichzeitig aber wurde seine Feinmotorik gebessert. Die darauf hingewiesene Lehrkraft konnte jedoch mit dem Vorschlag, auf diese Weise mit dem Schüler umzugehen, nichts anfangen, sodass er weiter als „schwierig“ galt.

Daraus folgt eine wichtige Regel (die hier im bedauernden Konjunktiv steht): Hätten wir etwas anderes beobachtet, hätten wir eine andere Erfahrung gemacht und anders handeln können.

Wenn wir helfen wollen, auch uns selbst, kommt es darauf an, unser Potenzial zu beobachten und daraus Fragen zu stellen, und vor allem auf das zu achten, was wir „noch“ beobachten und in Ereignisse umsetzen könnten. Das Potenzial erlaubt uns grundsätzlich nicht nur andere Erfahrungsmöglichkeiten, sondern damit auch andere, „neue“ und ungewohnte Umsetzungsmöglichkeiten.

So sind wohl die verschiedenen Modelle, helfen zu können, entstanden. Als Helfer/ in oder Betroffene/r in diesem Wechselspiel aber könnten wir uns für bestimmte Möglichkeiten entscheiden. Manchmal erscheint uns das außerhalb unserer Selbstbestimmung, so glauben wir oft. Es ist, als würde „Es“ entscheiden.28 Wie auch immer, wir setzen damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die unser Leben mehr oder wenigernachhaltig bestimmen, ihm eine bestimmte Richtung geben, und wir gehen – wie gelenkt – diesen Weg. Jedenfalls: Wir setzen immer eine Kette von Ereignissen in Gang. Und wenn wir zurückrudern, so ist sie doch in Gang gesetzt gewesen und wirkt als „Erfahrung“ bei einem „neuen Anfang“ immer noch mit – als Referenz, als Hindernis? Was wäre gewesen, wenn wir anders entschieden hätten? Was würde anders werden, wenn wir uns trotz unserer Erfahrungen neu entscheiden? Das sind Kardinalfragen in jedem Menschenleben und besonders im Zusammenhang mit jeder gewollten oder notwendigen Veränderung.

1.5.1 „Gut“ und „schlecht“ im Quantenfeld

Für Lebewesen sind „gut“ oder zuträglich und „schlecht“ oder abträglich grundsätzliche Bewertungen der Wirkung von Ereignissen und Entscheidungen; und die Frage ist, wie diese sich weiterentwickeln könnten. Das gilt für alle Lebewesen. Ebenso gilt für alles Lebendige, dass Gutes, gemessen am Bedarf des Organismus, Gesundheit, Wachstum und Entwicklung fördert und Schlechtes sie behindert. Die Seele bewertet genau, wenn sie nicht daran behindert wird!

Der Zellforscher Lipton beschreibt, dass isolierte Zellen in einer Petrischale sich zu einer Nährlösung hinbewegen und von einer toxischen Lösung wegbewegen.

D. h., Ereignisse können dem Leben „zuträglich“ oder „abträglich“ sein. Zuträglichkeit bzw. Abträglichkeit teilen sich als Informationen in verschiedener Form an das individuelle Leben mit, das dann darüber entscheidet – besser, um des Lebens willen entscheiden muss –, wie es erlebt und bewertet wird und wie mit den Folgen umgegangen werden soll, und so zu neuen Ereignissen im Quantenfeld führt.29

Aber könnte Abträgliches auch positive und Zuträgliches abträgliche Folgen haben? Wenn jemand einen Zug versäumt und glücklich ist, dass er dadurch einem Zugunglück entgeht, oder wenn jemand gerne Süßes isst und merkt, wie sehr er dadurch an Gewicht zunimmt?

Diese neue Situation wird wiederum von der Seele sehr genau registriert und ermöglicht eine andere Bewertung des neu Erlebten mit entsprechend anderen Folgen, wie im ersten Beispiel die Freude darüber, durch ein „Ärgernis“ „davongekommen zu sein“, im anderen Fall zum Entschluss zu kommen, das Gewicht zu reduzieren.

Der Entschluss zur Neubewertung braucht Besinnung und Zeit. Er wird aber manchmal besonders aus Mangel daran und vielleicht auch aus Mangel an Intelligenz und durch vorherrschende Emotionen unterlassen.

Es geht also um die Energie von Informationen, die durch Rezeptoren als zu- bzw. abträglich für das jeweilige Lebewesen konnotiert sind, deren Aufnahme und Verarbeitung seinen Zustand beeinflussen und insgesamt über seine Gesundheit und Krankheit entscheiden.

Es geht dabei um eine Entscheidungskette.30 Das führt uns zur „Ökologie“.

1.6 Ökologie 1

„Ökologie“ ist ein wunderbares Wort. Von Ernst Haeckel (1866)31 geprägt, bezeichnet es „die Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt“ im Hinblick auf die Notwendigkeit, Lebensräume von Lebewesen (damals nicht von Menschen!) und ihre Dynamik zu verstehen. Ich möchte Ökologie „Lehre von den Auswirkungen vom gemeinsamen Leben auf gemeinsamem Raum“ nennen, ist sie doch hervorragend geeignet, auch die Verhältnisse in den Lebensräumen von Menschen zu erfassen und zu beschreiben.32 Der gemeinsame Raum ist Lebensraum eines Menschen im Quantenfeld.

Genau definiert, bezeichnet der Begriff „Lebensraum“ die Lehre vom Zusammenleben einer Art und/oder verschiedener Arten von Lebewesen auf einem umschriebenen gemeinsamen Raum, der aber auch alle anderen Elemente enthält. In diesem Raum trachtet Leben grundsätzlich gemäß seiner Eigenart danach, Zuträgliches zu finden und Abträgliches zu meiden. Dies geschieht mit anderen Lebewesen entsprechend dem jeweiligen Lebenszyklus aktiv und wechselseitig, so gut es geht. Der umschriebene Bereich enthält dadurch viele ineinander verschränkte individuelle Lebensräume. Ein/e Beobachter/in sieht daher

eine Vielfalt von gleichzeitigen Beziehungen, die ein Netzwerk bilden,

die Bedarfslage, bezogen auf den jeweiligen Zustand des einzelnen Lebewesens,

wie jedes Lebewesen seine Anforderung an dieses Netzwerk, d. h. seinen Bedarf in Hinblick auf Existenz und Lebenszyklus, möglichst gut zu decken versucht und schließlich

die Auswirkung auf den Gesundheitszustand der verschiedenen Lebewesen.

Jedes Lebewesen stellt dabei je nach Lebensphase seine bestimmten Grundanforderungen, um leben, in seinen Notsituationen überleben und sich dabei entwickeln zu können. Es muss dieser inneren Vorschrift folgen, die jedem Leben immanent ist, gleich welche Gestalt es hat. Jedes Lebewesen organisiert die Ökologie seines Lebensraums innerhalb des gemeinsamen Lebensraums durch seine persönliche Ökologie. Dies dient der Erhaltung der inneren Ökologie, d. h. des „inneren Zusammenlebens“ der Organe und Organsysteme im „Lebensraum Organismus“ zur Erhaltung der Einheit des Organismus und seiner Funktionstüchtigkeit durch alle Stufen der Entwicklung, d. h., die Ökologie des Lebensraums und die individuelle Ökologie sind notwendigerweise gekoppelt.

Die Anforderungen des Organismus an die Ökologie des Lebensraums kommen aus seinem gesamtorganismischen Aufbau und ermöglichen und prägen sein „Zusammenleben“ mit den anderen, „so gut es geht“. Dabei geht es um „Nahrung“ verschiedener Art, die gesucht und angefordert wird.

Die Nahrung, z. B. in Form von „Lebensmitteln“, die ein Lebewesen anfordert, ist ein Beispiel dafür, wie die in ihr enthaltenen Energien dem Zusammenspiel des Organismus als innerem ökologischen Raum, d. h. dem System „Organismus“, dient. Sie muss aber im Lebensraum gefunden werden. Wird sie gefunden, erhält sie das System „Organismus“ funktionstüchtig, sodass dieses System auf seine spezielle Weise für andere zum gemeinsamen Lebensraum Zuträgliches, aber auch Abträgliches beitragen kann. „Lebensmittel“ sind auch Bewegungsraum, Licht, Temperatur, Kontakte mit den anderen der eigenen, aber auch mit denen der anderen Arten etc.

Beispiele für Zu- bzw. Abträgliches, was die Nahrung betrifft, sind z. B. Nahrungsabfälle der Menschen, die für manche Tiere, etwa Schweine, als Nahrung zuträglich sind und durch ihre Verwertung im Organismus der Tiere wieder als Nahrung für Menschen zuträglich werden. Sie sind aber auch für Ratten zuträglich, die sich dadurch vermehren und zur „Plage“ werden, die „bekämpft“ werden muss, damit der Lebensraum wieder zuträglicher wird, da diese den Lebensraum auch verschmutzen. Mit dem Schmutz auf ihrem Fell und mit ihren Exkrementen verunreinigen sie den menschlichen Wohnbereich. Sie übertragen zahlreiche Krankheiten wie zum Beispiel Tuberkulose, Typhus, Salmonellose, Hepatitis und Borreliose.

So verknüpfen sich viele individuelle Ökologien, die ganz verschiedene Anforderungen stellen, zur Gesamtökologie eines Lebensraums, die von den verschiedenen Organismen immer wieder geregelt werden muss. Dies geschieht dauernd und ist als solches ein redundantes Geschehen angesichts ständig möglicher und immer wieder eintretender Veränderungen im äußeren und inneren Lebensraum von Tag zu Tag, und es geht immer um die Zugänglichkeit individuellen Lebens im gemeinsamen Lebensraum zu dem, was seinem Überleben und seiner Entwicklung zuträglich ist, und darum, zu meiden, was abträglich ist, besonders wenn sich im Organismus „Eindringlinge“ mit ihrer individuellen Ökologie einzunisten trachten.33

Im Zusammenleben in einem gemeinsamen Lebensraum sind die Bemühungen der verschiedenen Lebewesen darauf gerichtet, ihren Bedarf zu sichern und Probleme der Bedarfsdeckung möglichst zu verhindern. Dies geschieht sowohl in Duldung des anderen als auch in Kooperation und Nutzung der Gegenseitigkeit und Verschiedenartigkeit, wenn das Leben und die individuelle Entwicklung möglich sind. So gesehen ist die Ökologie der Begriff, mit dem sich die Qualität der Absicherung der Existenz und Entwicklung gegen die unkalkulierbare Dynamik und die Unwägbarkeiten des Quantenfeldes beschreiben lässt. Dabei geht es für uns Menschen um drei interagierende Netzwerke,34 eigentlich Netzwerkanteile, in die wir hineingeboren werden und die wir von der Zeugung an anfänglich eher passiv, aber mit fortschreitender Entwicklung immer mehr aktiv mitgestalten:

Der primäre Netzwerkanteil „Mensch als körperlich-seelisch-geistige-sozial aktive Einheit“, d. h.: Was trägt der einzelne Mensch in der Art, wie er mit sich umgeht, zu seinem Zustand bei?

Der sekundäre intime soziale Netzwerkanteil, „Umwelt 1“, in dem Menschen durch andere Menschen bzw. Lebewesen unmittelbaren Lebensbedarf zu decken trachten. Hauptbeispiel dafür ist die Kernfamilie.

Der tertiäre weitere soziale Netzwerkanteil, „Umwelt 2“, der für die Deckung dieses unmittelbaren Lebensbedarfs nicht unbedingt zwingend notwendig ist, aber zur Lebensqualität beiträgt, wie andere Beziehungen zu Freund/inn/en, zu Kolleg/inn/ en, Zugang zu anderen Möglichkeiten, Gelegenheiten, Hilfen etc.

Alle drei Netzwerkanteile enthalten alle Elemente des Quantenfeldes, mit denen wir konfrontiert werden und mit denen wir auf unsere Weise umzugehen einerseits gezwungen und andererseits bestrebt sind. Das Kriterium des ökologischen Gelingens ist im Organismus als Zielvorstellung „eingebaut“. Wir kennen sie als Gesundheit und erleben sie als Wohlbefinden als Individuum bzw. als Person,35 wie es sich in jedem der drei Netzwerkanteile zeigt.36

Was bedeutet Wohlbefinden? Es ist ein Gesamtbegriff dafür, wie Gesundheit als Maßstab wahrgenommen wird.37 Was enthält z. B. der ökologisch gemeinsame Raum des Menschen, damit Wohlbefinden zustande kommt?

Er enthält alle Arten der Elemente (s. o.) in verschiedener und individueller Auswahl: andere Menschen verschiedener Nähe (Familie, Freunde/Freundinnen), Ressourcen, Infrastruktur in seiner Umgebung, Wohnraum als wichtige selbst gestaltete Umgebung, Bewegungsraum, Haustiere angenehmer und für ihn unangenehmer Art (Mücken, Ungeziefer etc. in erträglichem, d. h. beherrschbarem Ausmaß), Licht, Luft, Sonne, Wärme, Nahrung, Hilfe bei Gefahren, soziale Sicherheit usw., gute Kommunikation, befriedigendes Handeln (Arbeit!) etc. – alles in bestimmter von Wahrnehmenden erlebter individueller Qualität bzw. in einem bestimmten Ausmaß.

Wie jedes Lebewesen stellt jeder Mensch dabei grundsätzlich seine bestimmten Anforderungen, mit dem Ziel, von Tag zu Tag zu leben, zu überleben und sich dabei entwickeln zu können.

Wie die Entwicklung gelingt, zeigt sich an seinem jeweiligen Zustand im jeweiligen Entwicklungsstadium zu jedem Zeitpunkt in diesen 3 Netzwerken und hängt einerseits von den Anlagen und seinen Erfahrungen damit, aber auch von seiner Resilienz38 ab, einer Fähigkeit des Organismus, die sich erst in Krisen, besonders im primären und sekundären sozialen Netzwerkanteil manifestiert.

Im Zusammenleben in einem gemeinsamen Lebensraum sind also unsere Bemühungen als Menschen darauf gerichtet, unseren Bedarf zu sichern und körperliche und seelische Verletzungen zu verhindern, wobei dies sowohl in Duldung des/der anderen als auch in Kooperation und Nutzung der Gegenseitigkeit und Verschiedenartigkeit geschehen kann, aber auch oft in Abgrenzung oder gar „Vernichtung“ eines „Gegners“/ einer „Gegnerin“, wenn nur das Leben und die Entwicklung, so wie sie von der Individualität her gegeben und gefordert sind, möglich sind.

Gelingt es nicht, steigt die Wahrscheinlichkeit von aggressivem oder depressivem Verhalten und schließlich von klinisch diagnostizierbarer geistiger, seelischer und/ oder auch körperlicher Erkrankung39 oder in Form von Verhaltensstörungen, die sich im ökologischen Raum manifestieren.40

Das alles zeigt an, dass aus der Perspektive des Lebewesens bzw. seiner inneren Organisation Gefahr für die persönliche Existenz und die Entwicklung besteht, die möglichst rechtzeitig gebannt werden oder nach eingetretener Störung behoben werden muss.

Wenden wir uns aus ökologischer Perspektive dem Menschen zu, wobei das folgende Beispiel als allzu frühes Endergebnis für ein Menschenleben den Weg illustrieren soll:

Bsp.:

Ein zwei Jahre altes Mädchen aus dem oberpfälzischen Landkreis Tirschenreuth sei bereits tot in seinem Kinderbett entdeckt worden, teilte die Polizei in Regensburg mit. Die Zweijährige sei von ihrer Mutter vernachlässigt worden und daran gestorben.

„Die 21-jährige Frau wurde festgenommen. Die Staatsanwaltschaft Weiden wirft der Alleinerziehenden Totschlag durch Unterlassen vor. … Das Mädchen starb an Unterernährung, Flüssigkeitsmangel und verschiedenen Krankheiten. Mit einem rechtzeitigen Arztbesuch hätte es gerettet werden können, teilte die Polizei mit und berief sich auf die Ergebnisse der Obduktion.“ (news.orf.at, 29.3.2010)

1.7 Genetik und Epigenetik als fortlaufende Wirkungen

1.7.1 Entwicklungsbedingungen

Zunächst beginnt ein menschliches Leben nach der Zeugung wie ein „Urknall“, dessen Potenzial sich mit seinen genetischen Vorgaben in die Komplexität seiner zunächst intrauterinen Umwelt ergießt und dort allmählich seine Form gewinnt.41 Um das verfolgen zu können, ist es hilfreich, 3 interagierende individuelle, d. h. auf einen bestimmten Menschen bezogene Bedingungsfelder, jedes selbst ein komplex vernetztes Bedingungsgefüge, zu unterscheiden, die in den 3 Netzwerkanteilen wirksam werden und noch immer insgesamt entscheidend für die Entwicklung eines Menschen sind (siehe Abb. 1 auf S. 31): Bedingungsfeld = Milieu 1: das, womit ein Mensch bis zu seiner Geburt in die Welt in Erscheinung tritt, d. h.:

a. seine Genetik, d. h., mit welcher gattungs- und artgemäßen, familiären, aber gleichzeitig auch individuellen „Vor-Schrift“ ein Mensch sein Leben beginnt. Dies betrifft Fähigkeiten, Talente, Schwächen, genetische Störungen oder Defekte wie auch seine Resilienz. Diese Resilienz ist das in allen Zellen programmierte „Bewältigungspotenzial“ mit dem Ziel, die Entwicklung des Lebens zu ermöglichen, indem sie die jeweils zugehörigen Prozesse aus dem Inneren des Organismus zum Anspringen und Ablaufen bringt, so, dass es auch schwierige Situationen oft wider Erwarten überwinden kann. Es hat dadurch auch große Bedeutung für die Einflüsse der Epigenetik.

b. die Epigenetik, d. h. die Einwirkung von Einflüssen schon aus der intrauterinen Umwelt des Menschen (Zellen, Organe, Nahrung im Wechselspiel mit dem mütterlichen Bereich, z. B. Traumata der Mutter, Ablehnung der Schwangerschaft durch sie, versuchte misslungen Abtreibungsversuche), denen der Mensch noch im Verlauf der intrauterinen Entwicklung ausgesetzt war und die, weil sie ja schon „erlebt“ wurden, die Genetik dadurch überformen, dass sie durch Erfahrungen aus der Umwelt das Muster des Ein- und Abschaltens der Gene beeinflussen und dadurch bestimmte Muster genetischer Expression (des Ein- und Abschaltens der Gene) entsprechend prägen. D. h., es sind Vorerfahrungen, die in die Funktionsweise des Körpers und damit auch des Gehirns je nach Redundanz und Schwere „eingeschrieben“ sind, die die Umgangsweisen eines Menschen mit seiner Umwelt schon vorgestalten, aber nicht erinnert werden, sondern wie selbstverständlich „da sind“.

Untersuchungsergebnisse von Kindern von Müttern, die während der Schwangerschaft Stress ausgesetzt waren, zeigten einen konstant erhöhten CRH-Spiegel (Bauer, 2013a, S. 50–51) – „Zusammenfassung“:

Die biologische Reaktion auf Belastungen (Stress) ist von Person zu Person unterschiedlich. Entscheidend für die seelische und körperliche Reaktion auf eine äußere Situation ist – von Extremsituationen abgesehen – nicht die „objektive“ Lage, sondern die subjektive Bewertung durch die Seele und durch das Gehirn. Die Bewertung aktueller, neuer Situationen erfolgt durch die Großhirnrinde und das mit ihr verbundene limbische System (das eine Art „Zentrum für emotionale Intelligenz“ darstellt). Wie die Bewertung ausfällt, hängt von Vorerfahrungen ab, die das Individuum in ähnlichen Situationen gemacht hat, die in Nervenzellnetzwerken gespeichert sind und mit denen das Gehirn die aktuelle Situation abgleicht. Aufgrund der Unterschiede individueller Biografien fällt dieser Abgleich, auch wenn eine aktuelle Situation „objektiv“ identisch ist, von Person zu Person verschieden aus. Wird eine aktuelle äußere Situation aufgrund von Vorerfahrungen in ähnlichen früheren Situationen von der Großhirnrinde und dem limbischen System als alarmierend eingeschätzt, so werden unter „Federführung“ des Mandelkerns (der Amygdala), der zum limbischen System gehört, die Alarmzentren des Gehirns (Hypothalamus und Hirnstamm) aktiviert, die ihrerseits massive Körperreaktionen in Gang setzen. Da äußere Situationen jedoch, wie bereits ausgeführt, individuell verschieden bewertet werden, fällt auch das Ausmaß der Aktivierung von Alarmsystemen durch den Hypothalamus unterschiedlich aus – auch dann, wenn die äußere Situation „objektiv“ die gleiche ist. Wie wissenschaftliche Studien zeigten, hinterlassen früh nach der Geburt gemachte Erfahrungen von sicherer Bindung zu Bezugspersonen im biologischen Stresssystem einen Schutz, sodass die biologische Stressreaktion auf später im Leben auftretende Belastungsereignisse „im Rahmen“ bleibt. Umgekehrt haben frühe Erfahrungen von Stress eine erhöhte Empfindlichkeit („Sensibilisierung“) des biologischen Stresssystems zur Folge. Sichere Bindungen schützen jedoch nicht nur das Kind vor Stress. Soziale Unterstützung und zwischenmenschliche Beziehungen bleiben das ganze Leben hindurch der entscheidende Schutzfaktor gegenüber übersteigerten und potenziell gesundheitsgefährdenden Folgen der Stressreaktionen.

So wie die Genetik das Leben weiter bestimmt, wirkt auch die Epigenetik weiterhin und bestimmt den Zustand, d. h. auch den Gesundheitszustand nach der Geburt, und das Verhalten, das sich daraus entwickelt.

Das oben genannte kurze Beispiel (S. 48) lässt vermuten, dass das Kind eher unerwünscht war oder, wenn es erwünscht war, sich die Lebenssituation der Mutter so verändert hat, dass sie jegliches Interesse am Wohlbefinden des Kindes verloren hat.

Bedingungsfeld = Milieu 2: Wie sich nach der Geburt Genetik und Epigenetik in einem bestimmten Umfeld, d. h. nach den Vorerfahrungen mit dieser Dynamik, auf den Zustand des Organismus durch seine Anforderungen als Umsetzer seiner Ökologie im jeweiligen Lebensraum auswirken.

Dies betrifft sowohl alles intrauterin Vorausgegangene und genetische Störungen und Defekte mit ihren Auswirkungen als auch die weitere epigenetische Überformung.42

Dabei kommt es nicht nur auf die „Aus-Wirkung“, sondern auch wieder auf die „Rück-Wirkung“ aus dem Lebensraum an, die ja für die persönliche Ökologie entscheidend ist, wie z. B.: Wie kommt eine bestimmte Eigenart eines Menschen bei den anderen des Lebensraumes an? Dabei setzt dessen Rückwirkung die epigenetische Überformung fort. Wie wird der neue Mensch gesehen, behandelt, was löst sein Verhalten, seine Erscheinung, sein Verhalten aus und wie wird das aufgenommen? Etc.

So beschreiben zum Beispiel Grawe (2004) und Bauer (2013b) die Auswirkungen frühkindlicher Missbrauchserfahrungen für die Entwicklung psychischer Störungen im späteren Lebensalter.

Was mit Milieu 2 beginnt, setzt sich zunehmend, ergänzt durch das Milieu 3 bis zum Lebensende fort und prägt den Lebensweg zu jedem Zeitpunkt im Verlauf seines Lebens durch alle Lebensphasen und Schicksale hindurch, wie auch das oben beschriebene Beispiel zeigt. Wenn jemand zum Beispiel darüber klagt, dass seine Eltern nie für ihn/sie Zeit hatten, kann man folgende Fragen stellen: Wie viele andere Kinder bzw. Geschwister gab es? Wie viele davon waren „gewollt“? Wie viele davon sind „passiert“? Wie war die wirtschaftliche Lage der Eltern? Wie waren die Eltern einander gesinnt? Womit waren diese Eltern zu diesem Zeitpunkt beschäftigt? Was war ihnen wichtig, sodass sie sich ihm/ihr nicht im erwünschten Ausmaß widmen konnten? Und wie hat es ihn/sie für sein/ihr weiteres Leben und auch die verschiedenen ökologischen Räume, in denen er/sie sich bewegen wird, beeinflusst?

Das alles mündet in das Bedingungsfeld = Milieu 3:

Daraus ergeben sich die Fragen: Welche Entwürfe bestehen für die Zukunft? Was planen die Eltern, was plant der neue Mensch, der heranwächst? Wie nimmt er das an oder hat er anderes im Sinn? Welche Gesellschaft zieht er vor? Welche Gesellschaft nimmt ihn auf? Welche Vorstellungen von seinem Leben gibt er kund? Wer unterstützt ihn und wer lehnt ihn ab? Das alles wirkt auf ihn. Er ist ein/e neuer Bürger/in geworden.

Die innere und äußere Ökologie hat immer auch Auswirkungen auf die Zukunft, und dies in mehrfacher Hinsicht:

a. Die Auswirkungen aller bestehenden Bedingungen ergeben etwas, was auch sozioökonomisch bestimmt sein kann. D. h. die Bildungschancen sind (noch immer!) ungleich nach der sozialen Herkunft verteilt. Kinder aus unteren Bildungs-, Berufs- und Einkommensschichten finden schlechtere Bildungschancen vor.

Die Bildungschancen sind ungleich nach Migrationshintergrund verteilt, wobei eine genaue Differenzierung nach Herkunftsland und zu Hause gesprochener Sprache erforderlich ist.

Der Zustrom von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten seit 2015 hat erneut die Frage nach den Chancen dieser Menschen für ihre Zukunft aufgeworfen und danach, welche Hilfe sie brauchen, um ein Leben zu gestalten, das auch in ihrer neuen Heimat in Würde lebbar ist.

Wirklich gleiche Chancen haben Kinder aus benachteiligten Familien nirgendwo. Es gibt kein Land, in dem der soziale Hintergrund nicht über den Bildungserfolg mitentscheidet. Allerdings gibt es sehr wohl Staaten, in denen der soziale Status der Eltern nur eine vergleichsweise geringe Rolle spielt. In Österreich sind die Hürden für Kinder aus bildungsfernen Schichten dagegen relativ hoch und die soziale Mobilität ist gering (OECD 2018).

b. Die Auswirkungen durch Forderungen, wie man sein soll, d. h. als „bestimmender“ Auftrag, der explizit oder implizit vermittelt wird, wie die Zukunft geplant und bewusst und auch unbewusst angestrebt ist.

D. h.: Wie wirkt unter bestehenden Bedingungen eine Forderung? Wie realistisch oder unrealistisch ist sie, etwa weil sie überfordert? Oder auch eine „Prophezeiung“ wie „Aus dir wird nichts“ oder „Er/sie wird (in einem bestimmten Bereich) ein Star werden“ oder auch in der bekannten und wohlwollenden Form „Du sollst es besser haben als wir“.

c. Die Auswirkungen durch Forderungen von Menschen, wie sie sein wollen, d. h., welche Bestrebungen sie haben.

D. h.: An wen richten sie ihre Forderung? Wie wird dies angenommen? Wie beeinflusst das die Annehmenden? Wie viel Förderung können sie erwarten bzw. bekommen sie und von wem und unter welchen Bedingungen usw.?

Die Kombination dieser drei Milieus kann dramatische positive oder negative Folgen haben und formt Schicksale und deren Verläufe. Die 3 Milieus interagieren und bringen so Zustände bei allen Beteiligten hervor, die wieder Anstöße verschiedener und unvorhersehbarer Art in Hinblick auf ökologische Anforderungen in allen 3 Bereichen auslösen. Ein Beispiel: Ein Mensch entwickelt eine Vorstellung von seiner Zukunft. Die Verwirklichung dieser Vorstellung ist von bestimmten körperlichen, seelischen, geistigen und sozialen Bedingungen abhängig. Sind sie bei ihm gegeben? Müssen sie von ihm erst erarbeitet werden? Wie wichtig ist die Vorstellung, dass sie erarbeitet werden sollen? Wenn sie erarbeitet werden sollen, reicht der Wille aus, die notwendigen Anstrengungen zu unternehmen? Oder reicht der Wille trotz aller Anstrengungen nicht aus? Dies alles ist Prozess im Milieu 1 und vermittelt die Selbstwahrnehmung und den Selbstwert.

Zu dieser Situation kommt das Milieu 2 – speziell der Familie (der sekundäre und zunehmend der tertiäre Netzwerkanteil) – hinzu, mit seinen Einflüssen von Erwartungen, Förderung oder Zwang, wenn die Verwirklichung der Vorstellung ihr wichtig genug ist, oder Entmutigung bis zur Bedrohung, wenn diese Vorstellung ihr nicht wichtig oder unerwünscht erscheint, sondern eine andere wichtiger wäre.43 Erlauben die wirtschaftlichen Verhältnisse die Realisierung der Vorstellung oder die gesellschaftlichen Einstellungen des Umfelds, etwa dass man, wenn jemand einer bestimmten Schicht angehört, etwas erreichen oder nicht anstreben kann oder soll usw., so wie sie sich diesem Menschen durch Fremdwahrnehmung mitteilen?

Das alles ergibt die Dynamik des Milieus 3, in die das Milieu 2 einströmt. Es ist ein Wechselspiel von Hoffnungen, Erwartungen, Beschränkungen, geforderten oder angebotenen Bedingungen etc.

Und wenn die Vorstellung entmutigt wird? Kann sie dann dennoch verwirklicht werden? Oder wird sie aufgegeben und besteht sie nur noch als heimlicher Traum?

Bsp.:

In einer Bauernfamilie mit vier Geschwistern haben sich die drei älteren von ihnen entschlossen, sich nicht der Landwirtschaft zuzuwenden, speziell auch der Älteste, der für die Hofübernahme vorgesehen war und höchstens gelegentlich zu Hause zur Erntezeit mitzuhelfen bereit ist. So bleibt der Jüngste, der die Verantwortung, den Hof zu übernehmen, übertragen bekam und sich ihr nicht entziehen kann, obwohl auch er – auch aufgrund seiner Ausbildung – gerne von zu Hause weggegangen wäre. Er kommt psychotisch in die Klinik und seine verzweifelten Eltern berichten, dass er zu Hause den Hund brutal erschlagen hat. Er berichtet, dass er den Eindruck hat, von seiner Mutter vergiftet zu werden. Die Versuche, in therapeutischen Gesprächen das Dilemma des Sohnes aufzuzeigen und den Eltern zu verdeutlichen, sind erfolglos. Der Sohn bleibt bei seinen Vorstellungen, die medikamentös gedämpft werden können, doch wiederholt sich trotz der Medikamente immer wieder sein Verhalten, Tiere zu Hause zu erschlagen.44

Dieses Zusammenwirken von eigenen Wünschen, Ambitionen, Fähigkeiten und den positiven oder negativen Erwartungen der Umwelt hat große Bedeutung für das Entstehen von Problemen und Gesundheits- bzw. Verhaltensstörungen und muss von einem/einer Helfer/in immer bedacht werden. Es ist eine Fülle von Anstößen und Gegenanstößen, Wirkungen und Rückwirkungen, Argumenten und Gegenargumenten. Wie reagiere ich auf eine Situation, in der mir ein ersehnter Erfolg versagt ist? Gebe ich auf oder sehe die Situation als eine an, in der ich lernen kann, anders an meinen Erfolg heranzugehen? Wie gehe ich damit um, wie „die anderen“ darauf reagieren?45 Und wenn ich für meinen Teil erfolglos bin, wie gehe ich, wie gehen die anderen mit meinem Misserfolg um? Sehen sich die anderen bestätigt, freuen sie sich darüber und triumphieren, weil sie sich bestätigt sehen? Trösten sie mich? Fördern sie mich? Was bedeutet mein Misserfolg für meine Zukunft und die Zukunft der anderen in meinen Augen und den Augen der anderen, z. B. meiner eigenen Familie, speziell der Kinder?

Dies betrifft oft die als Nachfolger im „Lebens“-Werk der Eltern und durchaus zu deren Wohl ausersehenen Söhne und Töchter, die ihre eigenen Vorlieben und Neigungen unterdrücken mussten, um aus Gründen der Loyalität den Erwartungen der Eltern zu entsprechen.

In dieser Dynamik ergeben sich durch das Wechselspiel der Anstöße/Rückwirkungen und Gegenanstöße viele Zeitpunkte, die alle jeweils Ausgangspunkt für die nächsten sind und oft einzeln als „Ursache“ gesehen werden.46 Zu jedem Zeitpunkt bedeutet, dass wir hier nicht umhinkönnen, zeitlich zu differenzieren, zu welchem Zeitpunkt welche Verhältnisse herrschen und bis dahin geherrscht haben und letztlich herrschen sollten. Es ist ein räumliches Zeitraster, in dem diese Zeitpunkte geortet werden, sie sind Anhaltspunkte für Erfahrungen, die auch epigenetische Wirkungen sind in Richtung des Erhaltens der Gesundheit oder des Entstehens von Krankheit (körperlich, seelisch-geistig oder sozial).

Wir sprechen ganz allgemein von Vergangenheit und Gegenwart und entwerfen die für das Überleben und Entwickeln wichtige und Organismus immanente unausweichliche Dimension „Zukunft“, die Teil des raum-zeitlichen Rasters ist, und es ergibt sich zwangsläufig die Notwendigkeit zu fragen, zu welchem Zeitpunkt eine Schwierigkeit aufgetreten ist, d. h., wann was geschehen ist und in Bezug auf welche Zukunft, d. h., was hätte werden sollen, ist aber nicht gelungen, war durch äußere und/oder innere Ursachen, Einflüsse, Auslöser etc. nicht möglich.

Dabei spielt der Faktor „Anpassungsfähigkeit“47 eine wichtige Rolle. Diese ist jedem Lebewesen auf seine bestimmte Weise und in bestimmtem Ausmaß gegeben und ist Teil der Resilienz, ist aber auch durch ihr Ausmaß begrenzt. Ist diese Fähigkeit genetisch kräftig vorgegeben und epigenetisch gestärkt, ist das Überleben in unfreundlicherem äußerem Milieu eher zu erwarten, weil Belastungen länger ertragen oder besser bewältigt werden können, und die Zukunft eher gesichert ist als dort, wo die Anpassungsfähigkeit schwächer ausgeprägt und epigenetisch gefördert ist und das Milieu freundlicher sein müsste, um die Zukunft zu sichern.

Dies ist eine wichtige Frage bei körperlichen, aber auch seelisch-geistigen Behinderungen und der in diesen Fällen vorherrschenden sozialen Bedingungen.

Bsp. (siehe S. 42):

So konnte der Schüler, der aus einfachen Verhältnissen und aus einer Landvolksschule kam, durch Behinderung der Feinmotorik seiner Hände schlecht zeichnen, und war daher nicht in der Lage im Unterricht, in welchem diese Fähigkeit wichtig war, mitzuhalten. Sobald sich seine Störung bemerkbar machte, begann er im Unterricht Unruhe zu stiften, und da Zurechtweisungen und Strafen nicht halfen, wurde er der Schulpsychologin vorgestellt. Als diese die Behinderung erkannte, begann sie ihn zu ermutigen und ihm viel Anerkennung zu geben für das, was er schaffte. Dadurch wurde seine Unruhe durch sein Versagen verhindert, gleichzeitig aber besserte sich seine Feinmotorik. Die darauf hingewiesene Lehrkraft, konnte jedoch mit dem Vorschlag, auf diese Weise mit dem Schüler umzugehen, nichts anfangen, sodass er weiter als „schwierig“ galt. Welche Faktoren könnten die Lehrerin daran gehindert haben, den Vorschlag anzunehmen? In der Wechselwirkung zwischen Lehrkraft und Schüler und der gegebenen Verhältnisse konnte das vorhandene Potential, wenn es auch vielleicht geringer war, aber nicht genutzt werden, was von der Lehrkraft als „Mangel an Anpassungsfähigkeit“ unter den gegebenen Umständen angesehen werden kann und auch so angesehen wurde.

Das bedeutet jedenfalls, dass auch schon während einer Schwangerschaft trotz höherer Anpassungsfähigkeit eine zu einem bestimmten Zeitpunkt akut auftretende Verschärfung der äußeren ökologischen Situation intrauterin später zu Problemen oder Gesundheits- und Verhaltensstörungen führen kann.

Die Milieus 1, 2 und 3 sind „Zeiträume“, wobei Milieu 1 auch als hypothetisches Milieu angesehen werden kann, in dem Vorgaben aufgrund von Annahmen von innen und außen eine Gestaltungsfunktion haben, deren Ausgang sich immer wieder in Milieu 2 und 3 jeweils als aktueller Zustand eines Menschen widerspiegelt.

Wenn ich zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas zu tun oder nicht zu tun plane, wie wird es sich in dem aktuell davon betroffenen Zeitraumabschnitt von Milieu 2 und 3 auswirken? Welche Ereignisse werden dadurch geschaffen?

Durch das Wechselspiel dieser 3 Milieus in der Zeit kommt grundsätzlich jeder Zustand jedes Betroffenen zu jedem Zeitpunkt zustande:

Bsp.:

Eine Familie war von Chorea Huntington betroffen. Nachdem der Vater des Vaters schon daran erkrankt war, zeigte sich die Erkrankung an seinem Sohn im Laufe der Entwicklung. Das Problem, dessentwegen die Familie zur psychotherapeutischen Behandlung zugewiesen wurde, war die Erkenntnis, dass dem Sohn, jetzt Ehemann, nun das gleiche Schicksal bevorstand. Die naiv und ohne entsprechende Aufhlärung eingegangene Ehe war jetzt durch die Wut und Hoffnungslosigkeit der Frau schwer beeinträchtigt, und das wirkte sich verschlimmernd auf die Lage des Mannes aus. Das zeigte sich an der Verschlimmerung seiner Symptomatik und an einer depressiven Verstimmung. Aufgabe war hier, aufzuklären und zu helfen und das, was trotz des bestehenden Zustands möglich war, aufzuzeigen und auf die kommende Entwicklung vorzubereiten. Das verhinderte natürlich nicht die drohende Entwicklung, besserte aber die Situation des Mannes, was seine Erkrankung betraf, und entspannte die Beziehung.

Bsp.:

In einer Familie mit drei Kindern, in denen das jüngste, ein Mädchen, von Geburt an schwer geistig behindert war, waren bei beiden Söhnen Störungen aufgetreten. Beim Älteren zeigte sich das in Form einer Psychose, in der er seinen Vater nicht als seinen richtigen Vater ansah, sondern als dessen in Kanada lebenden Bruder, bei dem er, wenn er dort war, symptomfrei war. Beim Jüngeren waren schwere Lernstörungen aufgetreten, die seine Fähigkeit, die Schule erfolgreich zu besuchen, infrage stellten. Das Gespräch ergab, dass die Familie in keiner Weise über den möglichen Verlauf und die zu erwartende Entwicklung der Tochter aufgeklärt worden war, und da die behandelnden Ärzte/Ärztinnen von einer nur kurzen Lebenserwartung des Kindes gesprochen hatten, taten die Eltern einfach, was sie für das Beste für dieses Kind hielten: Sie standen ihm völlig zur Verfügung. Dies betraf ganz besonders den Vater, den das Mädchen, kaum dass er von seiner Arbeit heimgekommen war, ganz für sich in Anspruch nahm. Er stand damit weder seinen beiden Söhnen noch seiner Frau zur Verfügung, sodass auch die Ehe nicht mehr als solche gelebt werden konnte. Hier war es notwendig aufzuklären, die Erwartungen an die Entwicklung der Tochter realistisch sehen zu lehren und auf die Notwendigkeit hinzuweisen, dass die Familie, um zu gedeihen, auch für sich selbst sorgen lernen müsse. Die Kontrolle ergab, dass die Eltern das Kind tagsüber in eine Tagespflegeeinrichtung gaben und so Freiraum füreinander und für die beiden Söhne gewannen.

1.7.2 Die 3 Bedingungsfelder und die Ökologie

Die 3 Bedingungsfelder (= Milieus) wirken grundsätzlich über die Ökologie, d. h., sie regeln sie kontinuierlich über Informationen, die über die intraindividuellen und interpersonalen Beziehungen „transportiert“ werden, in ihrer jeweiligen ökologischen Qualität.

Diese ist jedoch von der Individualität des jeweiligen „Gegenübers“ – seiner Welt – bestimmt und kann nur mangelhaft vom „Gegenüber des Gegenübers“, d. h. dessen Welt – wenn überhaupt –, erfasst werden, und das erschwert stark die Erfüllung der Erwartungen der Beteiligten aneinander. Das geschieht in allen Erwartungen an den/die „andere/n“, und das wechselseitig. Dementsprechend kommt es leicht zu Missverständnissen und Konflikten. Das ist die Realität, die in Beziehungshilfen wie Coaching und Beziehungstherapien (Paar-, Familientherapie etc.) bearbeitet werden muss, wobei: Je zahlreicher und je fremder einander die Betroffenen im Gegenüber sind, desto größer ist die Gefahr, dass ein erfolgreicher Austausch misslingt.

Was macht die Ökologie und was ist ihre Qualität? Die Ökologie ist grundsätzlich die Bezeichnung für die lebensbezogene Bedeutung für das Energiefeld von Lebensräumen. Die Qualität bezeichnet die Wirkung der auf Lebewesen bezogenen Energien und ihre Auswirkung, insbesondere ob sie lebens- und entwicklungsfördernd oder lebensschädlich – oder -feindlich –, also zuträglich oder abträglich sind. Die Energien in Mustern – besser: „in Mustern geformt“ – treffen auf Rezeptoren, die sie als zu- oder abträglich erkennen und entsprechende „Antworten“ des Organismus auslösen. Dies gilt natürlich auch für Menschen. Speziell selektierend wirkt dabei das Bedürfnis jedes Menschen nach Zuträglichem für sich selbst und das Bedürfnis nach Abwehr von Abträglichem. Dazu kommen alle anderen energetischen Einflüsse der in seinem Lebensfeld wirkenden Elemente.48 Da dies für jeden in jedem Feld Mitwirkenden gilt, ergibt sich im Inneren wie im Außen ein Wechselspiel von Beziehungsbejahung oder -verneinung in Bezug auf jede Anforderung, die sich als Ablehnung oder Veränderungswunsch der Anforderung zeigt. Die Antwort darauf führt das Wechselspiel entsprechend fort. Dabei ergibt sich aufseiten der Lebewesen: Wie viel braucht jemand von Zuträglichem bzw. wann ist Zuträgliches „zu viel“ oder „zu wenig“ und zeigt negative Wirkungen?49 Das Gleiche gilt für Abträgliches, d. h.: Wie viel Abträgliches wird ertragen und wie viel ist zu viel? Dazu ist wichtig zu beachten, dass sowohl Zuträgliches als auch Abträgliches in seiner Auswirkung durch individuelle Parameter bestimmt ist. Die 1. Frage ist: Was braucht ein Mensch „heute“ an Zuträglichem und was erträgt er „heute“ an Abträglichem? Die 2. Frage ist: Wie kommt er zu diesem Ausmaß an Zuträglichem und wie kann er das Ausmaß an Abträglichem ertragen oder reduzieren bis beseitigen?

Wenn etwa ein Mensch, der an Gallensteinen leidet und gerne fette Speisen isst, aber seit er von seiner Erkrankung weiß, sie schon länger gemieden hat, meint, auch weil es im Rahmen einer Einladung ist, eine bestimmte fette Speise sich „einmal“ gönnen zu wollen, wird er schnell merken, dass ein Organ, nämlich seine Gallenblase, es „nicht verträgt“. Die gute Speise von früher ist abträglich geworden. Nimmt er etwas Abträgliches aus Rücksicht auf seine Gastgeber/innen zu sich, um sie nicht zu kränken, kann er in das Dilemma kommen, dass entweder seine Organe sich wehren oder die Gastgeber/ innen zumindest irritiert oder sogar ungehalten sind. Sowohl das eine wie das andere ist abträglich. Also müsste er einen Weg finden, wie er das Dilemma umgehen kann. Das gleiche Dilemma entsteht bei Menschen nach Alkohol- oder Nikotinentzug. Beide Stoffe haben trotz Abhängigkeitspotenzials hohe soziale Bedeutung, nicht nur für die Entspannung in schwierigen Situationen, sondern sie schaffen auch Verbindung zu anderen Menschen. Das erste Glas bzw. die erste Zigarette, weil man nicht Nein sagen will, kann zum Rückfall führen. Die Angst vor dem Verlust der Verbindungen oder gar vor dem Spott lässt das Risiko eingehen.

So bezeichnet man die Parameter z. B. mit „wehleidig“ oder „hart im Nehmen“. Die Parameter für Abträgliches haben für das Ausmaß an Resilienz eines Menschen Bedeutung, da diese Resilienz oft Erstaunliches an Schmerz und Leid ertragen lässt.50 Die Ausmaße sowohl für Zuträgliches als auch für Abträgliches sind durch vieles, auch im Tagesverlauf, beeinflussbar.

Jedenfalls ergibt sich aus den Parametern jedes Menschen sein Gesamtzustand und seine Bewertung seines Wohlbefindens aus Sicht seiner Welt.

Die Individualität der Wahrnehmungen bzw. der Antworten darauf führt dann zu oft unvorhergesehenen und vor allem für die Beteiligten unverständlichen Wirkungen. Da sich die Entwicklung jedes Lebewesens – so auch des Menschen – immer wieder neuen Anforderungen bzw. dem jeweiligen Entwicklungsstand angepassten Zuträglichen stellt, geht diese Dynamik mit immer neuen Themen weiter.

Versucht man die Ökologie in diesem Prozess über die 3 Bedingungsfelder zu verfolgen, dann ergibt sich Folgendes:

Die Genetik entspricht einem Gestaltungsauftrag und -einfluss auf die Entwicklung zum erwachsenen Menschen mit klaren, eindeutigen und entschieden gestellten Anforderungen von Zuträglichem. Damit ist etwas scheinbar „Feststehendes“ eingeführt. Diese Anforderungen treffen schon intrauterin auf ein bestimmtes Milieu und hier beginnt schon ihre epigenetische Strukturierung. Es entscheidet sich so, wie gut und mit welchen Möglichkeiten des heranwachsenden Organismus diese genetisch vorgegebenen Anforderungen erfüllt werden, abhängig von seiner organischen Leistungsfähigkeit und den ihn umgebenden Verhältnissen, wie sie von Anfang der uterinen Einnistung gegeben sind. Denn die Epigenetik beginnt sofort.

Für den heranwachsenden Organismus bedeutet das, dass er im Wechselspiel mit der Epigenese seine Entwicklung, so gut er kann, schützt, z. B. indem bei Krisen über die Genetik vermehrt Stressreaktionsmuster ausgelöst und mit der Zeit etabliert werden.51 52 In diesem Wechselspiel mit der Epigenese wird der Ausdruck der Anforderungen von Zuträglichem überformt und richtet sich mit Fortschreiten des Lebens an den allgemeinen Lebenskontext, d. h. in erster Linie an die Familie in ihrem Zusammenleben und natürlich, je nach gegebenen Verhältnissen, auch an größere Gemeinschaften wie Heime, Nachbarschaften etc., und letztlich an die Gesellschaft bis hin zum Universum, d. h. an die 3 Netzwerkanteile. Es stellt sich daraus immer die Frage der Integration in diese, auch trotz anderer als „normaler“ Anforderungen.

Bsp.:

So erregte ein Fall Aufmerksamkeit, in dem eine Frau, bei der in der Schwangerschaft eine zu erwartende Behinderung des Kindes diagnostiziert worden war, den Gynäkologen auf Unterhalt dieses Kindes klagte, mit der Begründung, er habe sie auf die Behinderung nicht aufmerksam gemacht. Dieser hatte sie zwar aufmerksam gemacht und auf die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen hingewiesen, doch hatte die Frau diesen Hinweisen lange keine Aufmerksamkeit geschenkt, bis das Kind auf der Welt war.

In anderen Fällen wird ein Kind mit Behinderung in seiner Familie angenommen und wird als wichtiger Faktor für die Entwicklung der Familie gesehen. Was aber die Umwelt betrifft, so werden Kinder mit angeborener Behinderung manchmal ausgegrenzt und sogar die Eltern gemieden, wie sie berichten, sodass diese sich mit ihrem Kind und anderen Eltern in der gleichen Lage solidarisieren. Es finden sich dann hilfreiche Institutionen, die solchen Kindern zur Integration in die Gesellschaft verhelfen wollen.

Die Anforderung von Zuträglichem setzt sich in das 2. Bedingungsfeld fort, wo sie vom Entwicklungsstand anders als im 1. Bedingungsfeld ist, aber auch durch die jetzt auch andere Begegnung mit der Umwelt epigenetisch weiter überformt wird und in dieser Weise das Milieu weiter mitgestaltet.

Dabei wird von einer relativ ungestörten Entwicklung in Feld 1 ausgegangen, wobei sich immer wieder die Frage stellt, wie sich Feld 2 entwickelt hätte, wenn die Entwicklung in Feld 1 doch gestört wurde.

Aber auch wenn Feld 1 ungestört begonnen hat, kann Feld 2 gestört sein, wenn etwa durch Traumata oder Erkrankungen Behinderungen auftreten, die sich auch auf die weitere Entwicklung in diesem Feld auswirken.

Bsp.:

Ein Mann, der zunehmend seine Sehkraft verloren hatte, kam auf Betreiben seiner Kinder mit seiner Frau in Behandlung, weil er diese immer wieder misshandelte. Im Gespräch zeigte sich, dass er, der gewohnt war, verschiedene Holzarbeiten zur Ausstattung seines Hauses zu tun, das aber durch seine ab einem bestimmten Zeitpunkt abnehmende Sehkraft nicht mehr konnte, immer mehr auf seine Frau angewiesen war und wütend wurde, weil sie es nicht so machte, wie er es gemacht hätte. Sie sollte gleichsam seine Augen sein. Da seine Frau dies nicht verstand, nahm die Spannung zu und so kam es zu den Tätlichkeiten.53

Dabei stellt sich die Frage, wie sehr Bedingungsfeld 2 in der Lage ist, Anforderungen, die ein heranwachsender Organismus an sein Umfeld stellt, auch wenn er in Feld 1 oder 2 gesund ist, zu erfüllen. Hier spielen Einstellungen und soziale Bedingungen des engeren und weiteren Feldes, d. h. auch gesellschaftliche Bedingungen, eine wichtige Rolle. Natürlich ergibt sich bei Feld 1 und 2 auch die Frage der Verstörung des Umfelds. Kann eine Familie, in der schwierige Verhältnisse herrschen und in der ein Kind gezeugt und geboren wird, mit dem Neugeborenen und allmählich heranwachsenden Kind in Bezug auf dessen Forderung nach Zuträglichem adäquat umgehen?

Bsp.:

Ein junger Mann, der äußerlich nicht attraktiv war, war ein unehelicher Sohn einer Frau, die ihm verschwieg, wer sein leiblicher Vater war. Als sie einen anderen Mann heiratete, akzeptierte dieser das Kind nicht, sah es als Schandfleck an und verstieß es schließlich. Der junge Mann entwickelte sich zu einem Kämpfer für andere – in seinen Augen benachteiligte Menschen in der Psychiatrie. Er selbst erkrankte an Hypertonie und Diabetes und musste deswegen stationär behandelt werden. Da er durch sein Äußeres von den behandelnden Ärzten eher herablassend behandelt wurde und sich mit seinen Beschwerden nicht ernst genommen fühlte, setzte er auch alle Rechtsmittel ein, um zu seinen Ansprüchen zu kommen, und war dabei, trotz aller Versuche, ihn zu beschwichtigen, erfolgreich. Nachdem er schwer krank starb, waren viele Menschen zu seinem Begräbnis gekommen, denen er viel Gutes erwiesen hatte.

Können diese Felder überhaupt ungestört sein? Das ist für Feld 1 und 2 schwer zu beantworten, solange sich kein Problem oder keine Gesundheits- und/oder Verhaltensstörung zeigt. Für Feld 1 könnte etwa mit zunehmender Kenntnis des menschlichen Erbguts ein genetisches Screening Auskunft geben, d. h., es kann am Anfang so aussehen, als wäre von dieser Seite kein störender Einfluss zu erwarten, außer es besteht die Möglichkeit genetische, aber noch nicht manifestierte Dispositionen zu erkennen – ein zunehmendes Bestreben in der Genforschung.54 Für Feld 2 kann aber deswegen noch keine sichere Aussage getroffen werden, da sich entwicklungsbedingte, aber auch im Laufe der Zeit eingetretene Störungen oder Behinderungen, d. h. die Interaktion in diesem Feld, so auswirken können, dass – z. B. was Anlagen betrifft, trotz anscheinender Ungestörtheit zu Beginn – sich Störungen im Verlauf der Zeit bemerkbar machen, für die es eine Anlage gegeben hat, die aber nicht als Störung in Erscheinung getreten wäre, wären die Bedingungen günstiger gewesen.

Am ehesten – und schon mit langer Tradition – können für Feld 2 Aussagen bzgl. Störungen gemacht werden, ist dieser Bereich ja Forschungsbereich der Psychiatrie, Psychologie und Soziologie und der Psychotherapie mit ihren verschiedenen Modellen, wobei alle vier Wissenschaften die Auswirkungen des Wechselspiels zwischen Organismus (Körper, Seele und Geist) und sozialen Beziehungen speziell untersuchen. Daraus ergeben sich Diagnosestellung und Behandlungsmethoden, deren verschiedene Modelle das Wechselspiel beschreiben können, das die Ökologie so regelt, dass Störungen aus dieser Sicht verständlich werden und daraus Möglichkeiten für das Schaffen ungestörter Verhältnisse, d. h. eine besser funktionierende Ökologie, abgeleitet werden können.

Die Anforderung der Ökologie Jugendlicher ist, Sinngebendes zu finden und sich darin bewähren können, gleichsam in dem, was sie ihrem Interesse folgend beginnen, „siegen“ zu können und dafür die Bestätigung Erwachsener zu empfangen. Wie wichtig das ist, zeigt sich dort, wo sich Jugendliche etwa aus religiösen Gründen wie bei der kirchlichen Sozialaktion „72 Stunden ohne Kompromiss“ engagieren. Genau dieses Sinngebende, um sich zu bewähren und den Erfolg zu erleben, wird von der Politik für verunsicherte oder schlecht sozialisierte Jugendliche, zu denen auch jugendliche Migrant/inn/ en gehören, oft nicht angeboten, sodass sich die Energie der jungen Menschen in Gewalt oder kriminellen Handlungen „aus Langeweile“, wie sie selbst sagen, entlädt, neuerdings durch Annehmen einer vom Islam abgeleiteten Ideologie, der sie sich anschließen, um für einen „Gottesstaat“ zu kämpfen (und auch bereit sind, dafür zu sterben!). Dabei zeigt sich, dass bereits Kinder ab 8 Jahren von den Parolen angesprochen werden.

Bsp.:

So wurde ein 14-jähriger Junge entdeckt, der im Internet nach Anleitungen zum Bombenbau gesucht hatte, um einen Anschlag auf den Westbahnhof in Wien zu unternehmen. Auch hier zeigt sich, wie mangelhafte Integration in das soziale Netzwerk seiner Umgebung mithalf, auf diese Weise Sinn zu schaffen, für die man bereit ist, alles ohne Rücksicht auf das eigene Leben einzusetzen. Eigentlich ist das die Einstellung von „wahren Helden“. Die erste Maßnahme nach seiner ersten Entlassung aus der Untersuchungshaft war, ihn „zu verpflichten“ in die Schule zu gehen, dem er vordergründig bereitwillig zustimmte. Als er dies dann jedoch unterließ, was zu erwarten war, wurde ihm seitens der Behörde vorgeworfen, „sich nicht an seine Zusagen zu halten“. Sie verstand nicht, dass die verlangten Zusagen von einer unfreundlichen Autorität ihm unwichtig erschienen, hatte er doch längst „ideologisch Feuer gefangen“ („Der Standard“ vom 29.10.2014).

Die Frage der Ungestörtheit von Feld 3 ist schwer zu beantworten. Sicher ist, dass sich an jeden Menschen immer irgendwelche – oft auch unausgesprochene – Erwartungen richten, seien sie positiv oder negativ („Er/sie wird unser Erbe weitertragen“). Die Erwartungen treffen auf Menschen und werden seelisch wahrgenommen. Auch die Einstellung, dass von jemandem nichts zu erwarten ist und daher auch keine Anforderungen gestellt werden, in denen ein Mensch zeigen kann, welche Fähigkeiten er hat, ist ein erwartungsähnlicher Einfluss, z. B. einer, der Bedeutungslosigkeit als Person und Mensch vermitteln kann. Schon der Beginn eines menschlichen Lebens ist von Erwartungen von außen geprägt, was sich auch auf die Erwartungen eines Menschen an sich selbst auswirken wird. Dies kann grundsätzlich ermutigen, weil ihm etwas zugetraut wird, und es kann, je spezieller die Erwartungen sind, aus dem Wunsch, entsprechen zu wollen oder auch zu müssen, zur Sinngebung führen oder auch zum Widerstand gegen spezielle Erwartungen. Insofern sind Erwartungen oft für den Selbstwert entscheidend.

Ungestört sind Erwartungen der Umgebung (Eltern bis Gesellschaft) im Feld 3, wenn sowohl die Erwartungen eines Menschen an sich selbst als auch die äußeren Erwartungen im Einklang mit vorherrschenden „positiven“ Werten und Normen der unmittelbar Nächsten oder der Gesellschaft im Allgemeinen sind, was auch immer diese Werte und Normen sind.

Dies entspräche einem Entgegenkommen der Anforderung nach Zuträglichem, vor allem zuträglicher Information, sodass die Erfüllung Person-intern mit dem Gefühl des Erfolgs belohnt wird, was auch von außen bestätigt wird.

Bsp.:

Bis vor Kurzem wurden Kinder von Angehörigen des IS (= Islamischer Staat) darauf trainiert, Menschen, die als Geisel genommen oder als Verräter angesehen werden, zu erschießen. Der, der es ihnen befiehlt, steht dabei und feuert sie an, das zu tun, und lobt sie, dass sie diese Probe bestanden haben. Auch die Kindersoldaten in den verschiedenen Krisenzonen lernen zu töten.

Es bleibt aber offen und ist wichtig auszuloten, welches Potenzial an Ungestörtheit in jedem Bereich besteht, aus dem sich insgesamt vermehrte Resilienz ergibt, und wie weit das zusammen mit der Kreativität und Anpassungsfähigkeit des Menschen imstande ist, Störungen auszugleichen, sodass Lebens- und Entwicklungsfähigkeit wiedergewonnen bzw. erhalten bleiben und ein erfolgreiches individuelles Leben möglich ist.

Dieses Potenzial ist durch das bestehende Wechselspiel der 3 Bedingungsfelder verdeckt, sodass nur der Ist-Zustand des Feldes 2 zu jedem Zeitpunkt sichtbar ist, der aufgrund der Zeichen, die sich erkennen lassen, zur Diagnosestellung, d. h. zur Identifikation als Störung und Namensgebung, auffordert. Dies kann aber nur der Anstoß für 2 Schritte sein:

die Erforschung der Entwicklung der Störung, d. h. die Ätiologie55

die Erforschung des verdeckten Gesundheitspotenzials, d. h. der in jedem Fall gegebenen, aber verdeckten Möglichkeiten der Salutogenese (Antonovsky, 1997).56

Das erfordert von jedem/jeder Helfer/in, dass er/sie grundsätzlich an die Möglichkeit der Gesundung, soweit es ihm/ihr eben möglich ist, glaubt und dies als Wichtigstes im Auge behält und nicht vorzeitige oder aus seinem/ihrem „sicheren“ Wissen bzw. seiner/ ihrer Erfahrung ungünstige Prognosen stellt.57

Diese Gefahr besteht sowohl bei Ärzt/inn/en als auch bei Therapeut/inn/en und eigentlich bei uns allen, wenn wir uns mit dem, was wir beobachten, zufriedengeben.

Wie immer das Wechselspiel der 3 Felder in den 3 Netzwerkanteilen zu jedem Zeitpunkt ist: In diesen Netzwerkanteilen wirken die Anforderungen, die das Leben stellt, d. h. Anforderungen an das Leben und die Tatsache, eine eigene Individualität entwickeln zu dürfen. Es geht um das Bestreben nach dem eigenen Umgang mit der Umwelt, und wie diese damit umgehen soll. Können diese Anforderungen erfüllt werden, besteht „Gesundheit“ so weit wie möglich, d. h., das Zusammenspiel des Systems „Organismus“ ist unter den gegebenen Bedingungen so optimal wie möglich. Dementsprechend ist die Widerstandsfähigkeit gegen Störungen, die von innen oder außen herankommen, letztlich die Resilienz.58

Bsp.:

Kinder mit angeborener Störung des Immunsystems brauchen einen ständigen Schutz vor Infektionen. Der ist dann zur Hand, wenn seitens der Medizin ein solches „Zelt“ zur Verfügung gestellt werden kann, aber auch die Familie bereit ist, auf diese Situation so zu reagieren, dass trotz der Einschränkung das Kind körperlich unbeschadet und seelisch so gesund wie möglich ist.

Bsp.:

Der französische Jazzpianist Michel Petrucciani litt seit seiner Kindheit an der sog. Glasknochenkrankheit. So sehr er dadurch in seiner Bewegungshaltung und Bewegung beeinträchtigt war, war er ein hervorragender und höchst erfolgreicher Jazzpianist bis zu seinem Tod mit 37 Jahren (https://de.wikipedia.org/wiki/Michel_Petrucciani).

1.7.3 Die Bedeutung der Epigenese für die Bewältigung des Lebens

Die Bedeutung der Epigenese liegt in ihren Folgen für die Gestaltung der Persönlichkeit.

Da sie gleichzeitig mit der Entwicklung mit ihren genetischen und anderen Faktoren, z. B. Gesundheitsfaktoren, Mangelzuständen, der Entwicklung der Familie, wirksam wird, entstehen Einflüsse dadurch, die gleichzeitig mit den gegebenen Entwicklungsnotwendigkeiten wirksam werden. Diese Einflüsse, betrachtet man die Entwicklungsstufen, schaffen besonders in den früheren Entwicklungsstadien die Realitäten der Kinder und prägen ihren Umgang damit. Dabei zeichnen sich die Entwicklungsstufen ab.

Ein bekanntes Phänomen, z. B. bei sexuellem Missbrauch, der in sehr frühen Entwicklungsstufen an dem Kind begangen worden ist, ist, dass sich die altersgemäße Bereitschaft zur Bindung trotz schmerzhaften und brutalen Missbrauchs ebenfalls abzeichnet.

Das Kind liebt den/die Täter/in trotz erlittener Schmerzen und Demütigungen, d. h. diese Bindung folgt der phasengemäßen Entwicklung trotz des Missbrauchs und ist so ein Hindernis für die Behandlung.

Bsp.

In einem Therapieseminar wurde von der behandelnden Ärztin eine junge Frau vorgestellt, deren Krankheitsbild dem Bild der Multiplen Sklerose entsprach, die aber nicht nachgewiesen werden konnte. Die Patientin wurde von ihrer Mutter sexuell missbraucht und gleichzeitig dafür beschimpft, was sie (die Mutter) mit ihr tat. In der Therapie vermied sie es, darüber zu sprechen. Sie brauchte einen Rollstuhl, in dem sie – eingehüllt in sehr warme Kleidung – lag und dennoch über Kälte klagte. Manchmal gelang es der Ärztin, dass sie für kurze Zeit lebendiger und beweglicher wurde. Sie vermied es, über das, was in ihrer Kindheit mit ihr geschehen war, zu reden.

Kinder wachsen auch mit den folgenden epigenetischen Einflüssen weiter und schaffen besonders für den heranwachsenden und späteren Erwachsenen ein Modell für den Umgang mit sich und der Welt. Sie schaffen Verhaltensmodelle, die fest verankert erscheinen – wie angeboren –, diese sind aber entweder förderlich oder bei denen, die therapeutische Hilfe suchen, meist hinderlich und erschwerend für die Bewältigung des Lebens. Die Kinder sind dann anfällig für psychische und teilweise körperliche Gesundheitsstörungen sowie für soziale Verhaltensstörungen.

Diese Störungen sind oft der Anlass für psychotherapeutische Behandlung mit der Erwartung, sich dadurch von störenden Einflüssen zu befreien, um das Leben besser bewältigen zu können.

Die Frage, woran ein Verhalten eine/n Betroffene/n erinnert, bringt meist die Geschichte dieses Verhaltens ans Licht. Es sind Einstellungen, die für den/die Betroffene/n so selbstverständlich sind, dass er/sie sie kognitiv erkennt und als lebensstörend ablehnt, aber dennoch nicht verändern oder ablegen kann. Sie sind dann der Anlass für die psychotherapeutische Arbeit bzw. Begleitung bei körperlichen Erkrankungen oder sozialen Verhaltensstörungen. Schlimmer ist es, wenn dies von Heranwachsenden zwar als nicht gut oder nicht richtig erkannt wird, aber dennoch kognitiv „vererbt“ wurde, etwa wenn Gewalt in der Familie in die neue Familie als akzeptierter Modus – z. B. der Konfliktbewältigung – übernommen wurde.

Bsp.:

Ein Mann, der an einem Tumor im Bereich der Leber erkrankt war und deswegen schon länger in Behandlung stand und mir nach der letzten Operation zur Nachbehandlung überwiesen worden war, erzählte, wie sehr er nach jedem Behandlungsschritt geängstigt sei und die Gedanken, bald sterben zu müssen, ihn manchmal überwältigten, obwohl er sich immer wieder erholt hatte. Auf meine Frage, ob es zu dieser Angst Bezug zu seiner Ursprungsfamilie gebe, erzählte er, dass Angst in seiner Familie ein großes Thema gewesen sei. Standard war der Satz: Es kann immer etwas schiefgehen. Er sei von seinen Eltern ständig gewarnt worden, wie unsicher das Leben sei. Dementsprechend sei er bei seinen Versuchen, das Leben zu entdecken, schon in früher Jugend ständig vor den Gefahren gewarnt worden. Diese Angst vor dem, was geschehen könnte, dominiere auch jetzt noch die Ansichten seiner nun schon betagten Eltern.

1.8 Zustände, Zustände …

Die Zeichen der Gesundheit sind in erster Linie für den/die Betroffene/n selbst erkennbar: am Wohlbefinden in allen Bereichen der Wahrnehmung seiner/ihrer selbst (körperlich, seelisch und geistig), in den sozialen Beziehungen und an seiner/ihrer Autonomie im Wechselspiel mit diesen.

Körperlich bedeutet, dass der/die Betreffende keine körperlichen Beschwerden wahrnimmt bzw. erlebt, dass zeitweise auftretende Beschwerden wieder vorübergehen, sodass er/sie mit der „Selbstheilung“ solcher Beschwerden rechnen kann.59

Seelisch gesund zu sein bedeutet nicht Problemlosigkeit oder ständiges Stimmungshoch („immer gut drauf sein“), sondern imstande zu sein, Probleme, die sich zeigen, wahrzunehmen und mit eigenen Mitteln und Möglichkeiten immer wieder zu lösen bzw. lösen zu lernen und daraus Konsequenzen für das weitere Leben zu ziehen, ohne gesundheitsschädliche Hilfsmittel wie Alkohol, Drogen oder Medikamente oder auch sozial schädliche Mittel60 wie Unterdrückung anderer, Rücksichtslosigkeit, Betrug etc. anzuwenden oder durch Probleme die eigene Autonomie zu gefährden. Letzteres bedeutet nicht, die Hilfe anderer nicht in Anspruch zu nehmen, sondern, wenn notwendig, auch mit deren Hilfe die eigene Autonomie wiederzugewinnen, etwas, das Covey (2018) Interdependenz nennt. Darunter versteht man die Verbundenheit mit anderen nicht nur ohne Gefährdung der Autonomie, sondern die anderen sind immer auch Ressource für ihre Erhaltung.

Bsp.:

Eine Frau, die große Probleme in ihrer Ehe hatte, wurde von einer Verwandten, die sie ursprünglich nicht sehr geschätzt hatte, angerufen. Dies war ein Zeitpunkt, wo sich diese Frau mit ihren Schwierigkeiten nicht helfen konnte, und sie erzählte der Verwandten spontan alles, was sie bedrückte und belastete. Sie war überrascht, wie sehr sie sich jetzt von ihr verstanden und aufgefangen fühlte und welche große Erleichterung das Telefonat für sie brachte. Das alte Vorurteil hatte sich bei dieser Gelegenheit aufgelöst.

Geistig gesund zu sein, bedeutet in Ergänzung des seelischen Aspekts eine Gesinnung von optimistischem Vorwärtsschauen in die eigene Zukunft, verbunden mit Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten und mit Hoffnung auf Überleben und Erwartung einer auch aus eigener Kraft lebbaren Zukunft, aber auch die Sicherheit, nicht verloren zu sein und Sinn im Leben und eine Aufgabe und Bestimmung für dieses Leben zu haben, d. h., dass hier auch spirituelle Faktoren eine wichtige Rolle spielen können.

Wohlbefinden in den sozialen Beziehungen bedeutet das Gefühl, in einem Netzwerk zu leben, welches das Gefühl der Zugehörigkeit und des im Notfall Getragenseins vermittelt,61 d. h., dass hier die individuelle Wahrnehmung des Gefühls „nicht verloren zu sein“ mit einem Vorhandensein eines entsprechenden Netzwerks verbunden ist.62 Auch hier können spirituelle Faktoren eine wichtige Funktion haben.63 S. Freud (zit. n. Erikson, 2020) sprach vom „Lieben und Arbeiten können“ als Zeichen seelischer Gesundheit,64 wobei gerade das Lieben auch einen starken geistigen Anteil hat.65 Schlagwortmäßig könnte man von „Frieden“ sprechen, der bei Gesundheit wahrgenommen wird, und zwar als Friede im Inneren und mit der Umgebung, besonders mit den Mitmenschen des engeren Umfelds, der sich nach allen Problemen und Schwierigkeiten, die im Verlauf des Lebens auftreten, immer wieder einstellt, sobald sie gelöst, d. h. bewältigt oder bereinigt, sind. Zur Wahrnehmung von Frieden können andere Gefühlswahrnehmungen kommen, die diesen Zustand ergänzen, wie Freude, möglichst nicht auf Kosten anderer, Stolz auf eigene Leistungen und die Wahrnehmung von Freiheit, d. h. der Autonomie und Hoffnung als einer Vorwärtsperspektive, dies alles im Kontext der Interdependenz. Überblickt man diese „Wahrnehmungen“ von Gesundheit, dann wird dem/der Leser/in auffallen, dass diese Wahrnehmungen aus Sicht der Gesellschaft als Kriterien für „Normalität“ von Menschen wünschenswert und von außen erhoffte Innensichten von Menschen einer Gesellschaft sind. Sie können auch statistisch so beschreibbar sein. Die Wahrheit über Gesundheit ist, dass sie trotz innerer und äußerer Krisen, Konflikte, Schwankungen im Gefühl, gesund zu sein, Frustrationen, Exzentrizitäten, Leben auf Kosten anderer etc. doch bestehen kann, vor allem durch Mitwirkung der Resilienz und zufällig – oder bestätigt vorhandener – Ressourcen, Zufälle, Chancen etc.

Der Begriff „Friede“ mag in diesem Zusammenhang unangemessen erscheinen, ist aber deswegen wichtig, weil er die Bezeichnung für einen für Menschen in der Beziehung zu sich selbst und zu anderen ersehnten (wenn nicht bestehend) und deutlich spürbaren ökologisch positiven Zustand (wenn eingetreten) ist.66

Wenn Frieden im Körper mit dem guten Funktionieren des Körpers dann zusammenhängt, wenn die Anforderungen des Organismus befriedigt sind, wie etwa der Hunger, das sexuelle Begehren etc., sind der seelische, der geistige und der soziale Friede mit der Zufriedenheit mit der eigenen Lage, mit sich selbst und inmitten der anderen, verbunden. Seelisch etwa, wenn etwas gelungen ist, aber auch wenn innerer Einklang besteht. Geistig, wenn Einklang zwischen eigenen und allgemeinen Überzeugungen zumindest mit Gleichgesinnten und Wertvorstellungen im jeweiligen Lebensbereich im Denken, Fühlen und Handeln erfüllt werden. Es ist dies dann ein „aktiver Friede“ aus Verbundenheit und Solidarität. Daher hat in diesem Bereich auch religiöse Verbundenheit große Bedeutung, da sie Menschen auf Anforderungen aus Wertvorstellungen aufmerksam macht, mit denen als konkrete Übung Einklang zwischen ihnen hergestellt werden soll, d. h. dass seelisch-geistiger und sozialer Friede durch immer wieder mögliche Bereinigung von Spannungen und Konflikten entsteht und im Sinne einer für die Betroffenen annehmbaren Lösung der Vorwärtsbewegung des Lebens förderlich ist. Diese Probleme können, wie von der Psychoanalyse als Wechselspiel beschrieben, im Inneren, z. B. zwischen „Es“ und „Über-Ich“, mit den Mitmenschen und dem Gott der jeweiligen religiösen Überzeugung bestehen und müssen vom „Ich“, der auch im Inneren und zwischen Innen und Außen vermittelnden Instanz, gelöst werden. Dabei geht es jedoch immer um Anforderungen der inneren Ökologie, wie immer diese sind,67 sind doch diese Anforderungen beim Menschen komplex und individuell unterschiedlich (siehe „Ich-Haus“, S. 166).

Ein Gefühl, das mit der Wahrnehmung des Friedens kombiniert ist, ist die Ruhe. Sie vermittelt, dass im Moment keine Anforderungen (mehr) bestehen, die Handeln erfordern würden.

Aber auch „Ruhe“ kann verschiedene Qualitäten haben. Im Rahmen der Gesundheit ist sie, wenn sie eintritt, ein trophotroper Zustand. Sie kommt dem Bedürfnis nach Ruhe und Frieden, sowohl im Inneren als auch im Außen, entgegen. Sie ist ein Zustand der Spannungslosigkeit – wobei aber das Bestreben danach ebenso primär ist wie alle anderen Bedürfnisse des Organismus, bei denen sich verschiedene Befriedigungsmöglichkeiten anbieten.68 Das wäre eine gesunde Ruhe, die nicht nur den Schlaf ermöglicht, sondern nach dem Schlaf als „Ausgeruhtsein“ fühlbar ist.69

Es gibt sie aber auch als Zeichen einer gespannten Bereitschaft, gleichsam als „Ruhe vor dem Sturm“, als gefährliches Zeichen vor „kaltblütigen“ oder auch rasenden Affekthandlungen, z. B. auch vor drohendem Selbstmord, das anzeigt, dass die Entscheidung dafür gefallen ist.

Bsp.:

In den letzten Jahren fallen vermehrt rasende Affekthandlungen, speziell Messerattacken gegen die eigene Familie, auf, oft als Folge einer gesetzlichen und als Hilfe gedachten Möglichkeit, nämlich der Wegweisung eines aggressiven Familienmitglieds, d. h. ausschließlich Beziehungspartners, aus der Familienwohnung. Diese gesetzlich verordnete Hilfe wirkt eigentlich demütigend, weil „verordnet“, und wird zum Auslöser für schwere Gewalttaten, oft mit Auslöschung der Partnerin, der oft noch kleinen Kinder und letztlich auch der eigenen Person.

Beides, gesunde Ruhe und Frieden, sind normalerweise nicht ersehnte Dauerzustände, sondern immer wieder eine Art Atempause, d. h. notwendige Unterbrechungen der von außen oder im Inneren ausgelösten oder auch selbst z. B. durch Vorhaben gesuchten Spannungen, die eine immer wieder eintretende Realität menschlichen Lebens sind. Dieser Wechsel ist wichtig, da eine zu lange bestehende Ruhe bzw. zu lange bestehender Frieden als Stagnation empfunden werden kann.70

Da gesunde Ruhe und Friede ökologische Anforderungen des Organismus, d. h. Bedürfnisse,71 sind, besteht auch das Bestreben, sie mit allen, d. h. auch nicht physiologischen oder kriminellen Mitteln, zu befriedigen. Die Mittel reichen vom Erkennen der Notwendigkeit einer Änderung der eigenen Einstellungen oder der Lebensverhältnisse, ohne oder mit therapeutischer Hilfe, über Medikamente bis zu Entladung in Gewalttätigkeit, Mord72 oder Selbstmord73, wobei aus dem Wunsch danach, wenn er mächtig genug ist, bei den letztgenannten „Lösungen“ die Konsequenzen oft nicht mehr bedacht werden können. Diese Lösungen entspringen einer eingeengten Sicht der persönlichen Realität und wirken psychotisch. Sie stammen aus dem Bedürfnis nach Ruhe in einer unlösbar erscheinenden Situation, wobei der Wunsch nach Ruhe mächtiger ist als die Fähigkeit, dieses Handeln kritisch zu bewerten und andere Lösungsmöglichkeiten als die Gewalt gegen andere oder sich selbst zu wählen.

Autor

  • Harry Merl (Autor:in)

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Titel: Das gelungene Selbst